Die DDR rief - und keine(r) kam

Die Vertreter der DDR-Botschaft in Budapest haben ihre „Berater“ gegenüber dem Flüchtlingslager wieder abgezogen / Flugblätter mit der Zusicherung strafloser Rückkehrmöglichkeit erregten Heiterkeit / Unklarheit über möglichen Hungerstreik  ■  Aus Budapest Heide Platen

Die DDR-Vertreter sind verschwunden, „abgehauen“, sagen die Leute. Der kleine braunweiße Wohnwagen schräg gegenüber der „Kirche der heiligen Familie“ in Budapest steht verlassen da. Die weißen Spitzengardinen sind zugezogen. Noch gestern morgen hatten zwei der Herren des Morgengrauens, die hier mit dem Staatssicherheitsdienst gleichgesetzt werden, Präsenz gezeigt. Sie waren in einem Wartburg mit CD-Zeichen angereist. Nach geraumer Weile fuhren sie wieder ab. Niemand war zu ihnen gekommen, um das DDR-Angebot zur Beratung Rückreisewilliger anzunehmen.

Zu dem 40 Minuten dauernden Gespräch, das zwei DDR -Diplomaten mit dem Pfarrer der Gemeinde Imre Kozma geführt hatten, nahm der Malteser-Hilfsdienst am Mittwoch vormittag Stellung. Die Organisation habe der DDR einen Aufenthalt hier nicht verwehren wollen, die sei für Politik nicht zuständig. Die ungarische Vorsitzende, Zilla von Boeselager, sagte dazu: „Wir haben unsere Schutzbefohlenen darüber in einer Sondersitzung informiert und sie gebeten, gegenüber rückreisewilligen Landsleuten Toleranz zu zeigen und die Ruhe zu bewahren.“ Sie warnte vor unüberlegten Handlungen.

Daß sich die DDR inzwischen zurückgezogen hat, darauf habe niemand Einfluß genommen: „Das steht denen frei. Das ist ihre Angelegenheit.“ Daß im Lager ein Hungerstreik geplant werde, dementierte Freifrau von Boeselager entschieden. Sie wisse davon nichts. Mögliche „Einzelaktionen“ konnte sie nicht ausschließen, aber „jede Art von Druck“ sei verkehrt: „Manche Leute könnten Interesse daran haben, Unruhe zu bringen.“ Der Gedanke an einen Hungerstreik, an pazifistische Formen des Widerstandes, war an verschiedenen Stellen des Lagers entstanden. Die einen wollen offensiv sofort beginnen, die anderen überlegen, ob nicht vorher ein Gespräch mit Vertretern der ungarischen und deutschen Behörden der bessere Weg wäre.

Der Zulauf zu den drei Lagern, in denen inzwischen rund 5.500 Menschen leben, hat sich weiter verringert, in der Nacht zum Mittwoch trafen noch 20 ein. 'Budapester Neueste Nachrichten‘ berichtete gestern, daß die DDR Ungarnreisen demnächst nur noch an ausgewählte Personen vergeben will. Bulgarien und Rumänien sollen nur noch per Flugzeug besucht werden können.

Diejenigen DDRler, die schon Wochen vor der BRD-Botschaft in Budapest im Lager Szugliget verbracht haben, tragen die täglichen Null-Meldungen über ihre Ausreise aus Ungarn mit größerer Fassung als befürchtet. Die ersten Abende nach dem Bekanntwerden der Ausreise-Verzögerung waren untergegangen in Tränen, Sorgen und Suff. Besonders die Eltern mit kleinen Kindern bangen. In der Lager-Spielstunde sagte ein neunjähriges Kind: „Dann müssen wir zum fünften Mal so über die Grenze gehen. Ich halte das bald nicht mehr aus...“ Am Dienstag hockten in den Ecken wieder junge Leute, die Fluchtpläne über die Grenze schmiedeten, Generalstabskarten tauschten. Der Gedanke an eine Massenflucht nach dem Muster des Soproner Festes wurde allerdings von den meisten wieder verworfen. Die Besorgnis, die ungarische Gastfreundschaft allzusehr auf die Probe zu stellen, gewann bei denen, die handeln wollen, die Oberhand. Andererseits wollten gerade die DDRler, die schon Wochen ausharren, die Situation der Bittsteller nicht mehr ertragen.

Peter aus Potsdam empfindet seine Lage als entwürdigend: „Vier Wochen lang waren wir jetzt Objekt der Fürsorge. Mußten anstehen für die Suppe, für Geld, bekamen auf die Schulter geklopft.“ Er selbst und sein Freund nehmen keinen Pfennig von dem Geld, das die Hilfsorganisationen verteilen. Das könne sich zwar jeder holen, müsse aber für die 500 Forint stundenlang anstehen und Mehrbedarf begründen: Er wettert gegen seine Landsleute: „Da fängt die Lungerei und die Versorgungshaltung doch schon wieder an.“

Peter ist auch schadenfroh. Viele DDRler hätten das Geld bis zum Montag schlicht „versoffen und verfressen“ und sich dann neu in die Warteschlange gestellt. Nach der Aussicht, vielleicht noch Wochen und Monate im Lager bleiben zu müssen, seien sie sparsamer geworden. „Es haben noch nie so viele Leute in der Schlange zum Lager-Essen angestanden.“

Er verweigert die milde Gabe und die warme Suppe. Noch reicht das Geld, das er lange zuvor zur Vorbereitung der Flucht zusammengespart und in West-Mark getauscht hatte.

Verwirrung lassen Vertreter der ungarischen Reformbewegung zurück. Sie versichern den DDRlern immer wieder, sie könnten zuversichtlich sein. die Ausreise stünde kurz bevor.

Die Flugblätter, die die DDR-Botschaft verteilen ließ (siehe Ausriß) sorgten erst für Aufregung, dann für Gelächter: „Das bei unserer Papierknappheit!“