Familientradition und Klassenkampf

■ Fabrizia Ramondinos „Ein Tag und ein halber“

September 1969, ein Samstag abend in Neapel. Don Giulio, ein gealterter, heruntergekommener und völlig verarmter Großbürger, stellt der jungen Schneiderin nach, die für ihn Vorhänge zu nähen hat. Eine linke Studentengruppe tagt. Eng aneinandergedrängt diskutieren die Genossen im rauchigen Zimmer ein neues Thesenpapier. Die Malerin Costanza bringt ihre kleine Tochter Pio Pia zu Bett und erfährt von der baldigen Ankunft ihres Freundes Corduras. Ein heftiger Wind kommt auf, über Neapel entlädt sich ein nächtliches Gewitter.

Ein Tag und ein halber verstreichen. Am Montag morgen ist Don Giulio nicht mehr am Leben. Die Studentengruppe hat sich mit einem führenden Genossen aus Turin auseinandergesetzt. Desillusioniert über den chaotischen Zustand der studentischen Linken in Neapel ist dieser wieder abgereist. Costanzas Freund Corduras ist angekommen, aber nur, um sich zu verabschieden. Er will sich in den Dienst der Frelimo, der Befreiungsbewegung von Mozambique, stellen.

In diesen eineinhalb Tagen wird hauptsächlich in der Sonne gesessen, gegessen, getrunken und geredet. Doch ohne größere Handlung entstehen in Gesprächen und Erinnerungen die Lebensgeschichten der beteiligten Personen. Verwandtschaftliche, freundschaftliche und politische Beziehungen bringen immer wieder neue Menschen aus allen Generationen und Schichten ins Spiel. Wichtigster Schauplatz ist eine alte Villa, die Villa Amore, benannt nach dem Familiennamen ihrer Besitzer. Einige Mitglieder dieser Familie, die ärmeren - so Don Giulio, seine Cousine, die Malerin Costanza, deren Bruder, Mutter und Tante leben noch dort. Der größte Teil der Villa ist jedoch an Studenten, an Arbeiterinnen als Büro und als Laden vermietet. Zweifellos hat sie bessere Tage gesehen. Nur der Portier bemüht sich noch, die alten Regeln aufrechtzuerhalten, für die es inzwischen weder den baulichen noch den sozialen Hintergrund mehr gibt.

Wie ein roter Faden ziehen sich die politischen Diskussionen der Studentengruppe durch den Roman, ohne deren hauptsächlicher Inhalt zu sein. Mindestens ebenso wichtig ist, wie sich die einzelnen in der Diskussion fühlen, wie sie sich gegenseitig wahrnehmen. Die immer wieder eingeflochtenen Familiengeschichten und privaten Erfahrungen haben ihre Politisierung entscheidend mitbegründet. Der Roman favorisiert die individuelle Wahrnehmung, allerdings geprägt durch soziale Herkunft und wirtschaftliche Situation. Zudem beleuchtet er auch in der politischen Auseinandersetzung, daß die Vorstellungswelt der Frauen eine andere ist als die der Männer.

Fabrizia Ramondino, die durch ihren Roman Althenopis über Italien hinaus bekannt wurde, ist auch hier ihrer vielschichtigen, phantasievollen und an wunderbaren Details reichen Erzählweise treu geblieben. Während sie in Althenopis den „Kosmos einer Kindheit“ beschwört, wie der Roman im deutschen Untertitel benannt ist, erweitert sie nun den Handlungsspielraum. Die Politik der Studentenbewegung in Neapel, die soziale Vielfalt und Individualität dieser Stadt, der Zerfall alter Strukturen und Sitten sowie der Versuch, neue gesellschaftliche Wege zu gehen, werden gleichermaßen zum Thema. Die auftretenden Personen sind trotz aller Individualität in vieler Hinsicht Archetypen - Stellvertreter ihrer Schicht oder ihrer politischen Position. Häufig sind sie in widersprüchlicher Weise auch beides gleichzeitig. Grundmotiv ist die individuelle Entwicklungsgeschichte und wie diese in eine politische Artikulation einmünden kann. Die astrologischen Angaben im Anhang des Buches, die jeder Person ihr Sternbild zuordnen, bestätigen dies - mit einem kleinen Augenzwinkern vielleicht.

Diese Sicht auf die Studentenbewegung hat Fabrizia Ramondino in Italien auch Kritik eingetragen. Die gesellschaftliche Bewegung der damaligen Zeit sei verkürzt, ja verharmlost geschildert. Aber gerade darauf - auf die objektiven Bedingungen und den politischen Hintergrund der Studentenbewegung - kommt es nicht vorrangig an. Der packende, kunstvoll gebaute, bis in Kleinigkeiten hinein hinreißend beobachtende Roman betrachtet politisch gewordene Menschen auf ihrem individuellen Lebensweg. Insofern ist Fabrizia Ramondino allem auf der Spur, „Was kaum existiert oder gar nicht, durch das aber wir existieren“, wie sie Michel Leiris im Vorspann zitiert.

Barbara Dietz

Fabrizia Ramondino: Ein Tag und ein halber. Roman. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Arche Verlag. 321Seiten, 36DM.