Die Glotze - Hoffnung für die Ökologie der Erde?

■ Fernsehen nivelliert die Unterschiede zwischen den Menschen / Als Medium versetzt es alle in die Lage, sich andersartig wahrzunehmen

Gegen Ende der fünfziger Jahre setzte in den USA eine Welle von Unruhen ein; die Schwarzen in den Ghettos und Gefängnissen standen auf, weiße Mittelstandskinder rebellierten gegen ihre Eltern. Die Welle schwappte über nach Europa und brachte den Mai '68. Aber auch der ist nur Episode in dem Prozeß permanenten Wandels, dessen Zeugen wir alle sind. Aus kommunikationspsychologischer Sicht versucht Joshua Meyrowitz in seiner Studie mit aller wissenschaftlichen Vorsicht, den Beweggrund dieser permanenten sozialen Umbauprozesse dingfest zu machen.

Es ist leicht einsehbar, daß die Kommunikationsformen, die einer Gesellschaft innewohnen, das Bewußtsein ihrer Mitglieder von sich selber und ihrer Umwelt prägen. Die „orale Gesellschaft“, die nur auf mündlicher Überlieferung beruht, wird sich anders denken, fühlen und begreifen als eine Gesellschaft, die über die Schrift verfügt. Die Änderung von Kommunikationsformen bringt somit sozialen Wandel mit sich.

Schrift und Rationalität

Wie sieht das bei der Schriftsprache aus? Mit der linear angeordneten Schrift, die abstrakt ist und das Denken auf Rationaliät einschwört, auf das Vorher und Nachher, auf Wirkung und Ursache, wird es möglich, Weltreiche zu beherrschen. Fast überflüssig zu sagen, das es just jene Rationalität ist, welche die rückhaltlose Ausbeutung von Mensch und Natur durch die Menschen zum Standard erhebt. Als unmittelbare Folge der Erfindung der Druckpresse sind Reformation und die Entstehung der modernen Wissenschaft zu betrachten, die nun ihrerseits wieder soziale und ökonomische Wandlungen von unvorstellbarem Ausmaß provozierten.

Der allgemeine Zugang zu den Druckerzeugnissen schuf in letzter Konsequenz die (überholte) Vorstellung vom mündigen Bürger, der sich aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ entläßt. Medien formen also Bewußtsein von Ich und Welt.

Was aber ist mit den elektronischen Medien? Meyrowitz nimmt Marshall McLuhans‘ Das Medium ist die Botschaft ernst. Das Medium ist da, es ist präsent, es ist unmittelbar, es ist analog, wie Meyrowitz sagt. Analog nämlich zu allen anderen alltäglichen Kommunikationsvorgängen. Die Verständigung zwischen zwei Menschen funktioniert nicht anders als die Kommunikation zwischen Mensch und Fernsehapparat. Es kann nicht länger angehen, meint Meyrowitz zu Recht, daß die Wissenschaft den Fernsehapparat als Möbel begreift, das Informationen aussendet, die in ihrer Wirkung auf den Konsumenten dann untersucht werden können. Das ist linear gedacht. Der schon seit Jahrzehnten alltäglich und weltweit laufende Fernsehapparat hat längst Wirkung gezeigt. Das Medium ist die Umwelt des gesamten Globus‘. In dieser gigantischen „gemeinsamen Arena“ (des Fernsehens) treffen die sozialen Welten aufeinander. Die über TV empfangene Umwelt aber umgeben die Mauern der Privatheit jedes Wohnzimmers.

Fernsehen macht gleich

Herrschaft beruht auf Trennung: Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene, Reiche und Arme, Gesunde und Kranke, und dies in einem ganz und gar örtlichen Sinne. Beim König im Königspalais oder dem Staatspräsident im Ministerium, die vermittels Erklärungen regieren, da mag die Macht noch Aura haben. Aber der Kanzler vor der Kamera? Zwischen ihm und Frau X, die in einer Talkshow über die Probleme mit ihrer pubertierenden Tochter spricht, besteht kein Unterschied. Sie sind beide gleich; gleich präsent nämlich.

Es geht nicht um die Vermittlung von „Wissen“ - logisch abgeleiteter Wortkonstrukte -, sondern um die Vermittlung sozialer Erfahrung durch Bilder, Klänge und Töne. Das Fernsehen, das fast alles allen zugänglich macht, schafft Bewußtsein für die eigene Lage und die der anderen. Nicht zufällig bildeten sich in den letzten Jahrzehnten Minderheitenbewegungen aller Art. Das Fernsehen half dabei, „den unterwürfigen Neger zu einem stolzen Schwarzen zu machen, das 'Fräulein‘ zu einer Frau, das Kind zu einem 'menschlichen Wesen‘ mit natürlichen Rechten“.

Eine neuerliche Untersuchung in den USA stellte fest, daß der durchschnittliche Intelligenzquotient gesunken sei, wofür die elektronischen Medien - unter anderem Computer und Videospiele - verantwortlich gemacht wurden. Nun wird der Intelligenzquotient an der Lesefähigkeit gemessen. Aber, so Meyrowitz, vielleicht lernen die Kinder am Computer eine andere Art zu denken, „die beispielsweise die Integration vieler Variablen und sich überlappender Denk- und Handlungsstränge gleichzeitig erfordert.“ Eine andere Intelligenz also, die sozial flexibel und auf unterschiedlichen Ebenen funktioniert? Das wäre in der Tat eine Hoffnung für das ökologische System Erde.

Meyrowitz‘ wissenschaftliche Studie von großer Akribie, die ich aus diesem Grunde eigentlich nur „Spezialisten“ empfehlen würde, gibt noch zu einer anderen Hoffnung Anlaß: Daß nämlich zumindest Teilbereiche der Humanwissenschaft inzwischen dabei sind, die Schwelle von den siebziger zu den achtziger Jahren auch wirklich zu überschreiten.

Layla Schimmel

Joshua Meyrowitz, Die Fernsehgesellschaft, Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter, Psychologie Heute, Weinheim 1987