Völkerfreundschaft über alles

Interview Erich Honeckers für die Warschauer Zeitung 'Polityka‘  ■ D O K U M E N T A T I O N

'Polityka‘: Zum Grundstein der DDR wurden die antifaschistischen Traditionen. Die Deutschen aber, die später zu den Bürgern der DDR wurden, waren ja 1945 keineswegs nur Antifaschisten, die den Krieg in den Zuchthäusern der Nazis verbrachten. Manch einer hat ja 1939 begeistert die Siegesmeldungen gehört, manch einer gar die Westerplatte gestürmt oder Warschau beschossen. Dann nach dem verlorenen Raubkrieg wurde in Potsdam die neue Grenze an der Oder und Neiße zwischen den Deutschen und Polen festgelegt. Wie hat man, zuerst in der sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR, mit den Vorurteilen gegenüber Polen gekämpft?

Honecker: Als deutsche Antifaschisten, Männer und Frauen der ersten Stunde darangingen, in den zerstörten Städten und Dörfern Not und Hoffnungslosigkeit zu überwinden, war ihnen schmerzlich bewußt, daß die geistigen Trümmer mit zu den schwersten Hinterlassenschaften der braunen Barbarei zählten. Wir wußten damals, daß eine antifaschistisch -demokratische Umgestaltung ohne die restlose Beseitigung der nazistischen Ideologie auf halbem Wege stehenbleiben würde. Daher gingen wir an das schwierige Werk, besonders die unter der Herrschaft und dem Einfluß des Faschismus aufgewachsene, geformte, irregeführte und mißbrauchte junge Generation mit den Werten und Idealen des Humanismus, der Völkerverständigung, mit Demokratie, aber auch mit der ungeschminkten Wahrheit über Faschismus und Krieg vertraut zu machen.

Polen und die DDR verbindet nicht nur eine gemeinsame Grenze, die feierlich und bedingungslos im Görlitzer Abkommen anerkannt wurde, sondern auch gute Traditionen der Zusammenarbeit seit der Gründung der DDR. Polen hat auf einen Teil der Reparationen aus der DDR verzichtet, sich auch jahrzehntelang für die internationale Anerkennung der DDR eingesetzt. Es gab in den vergangenen 40 Jahren Perioden einer forcierten Nähe, und es gab auch Zeiten, in denen die Oder-Neiße-Grenze nicht allzu durchlässig war. Heute wird gesagt, daß diese unsere Grenze ein Modell für die zur Bundesrepublik an Elbe und Werra sein könnte. Genauso offen oder genauso zu?

Sie beziehen sich offensichtlich auf eine Äußerung von mir während meines Besuches in der BRD vor zwei Jahren. Ihr lag der Gedanke zugrunde, daß dauerhafte gute Nachbarschaft zwischen beiden deutschen Staaten verlangt, die Realitäten zu respektieren, wie sie sich im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung herausgebildet haben, und auf alle Versuche zu verzichten, die westliche Staatsgrenze der DDR in Frage zu stellen. In diesem Kontext, als Appell zur vorbehaltlosen Anerkennung der territorial -politischen Realitäten in Europa, wurde der Vergleich zur Friedensgrenze zwischen der DDR und der VR Polen an Oder und Lausitzer Neiße gezogen.

Ansonsten gibt es zwischen den Grenzen der DDR zur BRD und zur VR Polen natürlich einen beträchtlichen Unterschied. Das eine ist die Grenzlinie zwischen den beiden größten Militärpaktsystemen der Welt, das andere ist eine Friedensgrenze zu einem befreundeten und verbündeten Land.

Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen haben schon eine eigene Geschichte, es gab Perioden der von oben lancierten Freundschaft und der unterschwelligen Abneigung. Es gab Befürchtungen, daß der „Polnische Bazillus“ auf die DDR überspringen könnte, und abschätzige Feststellungen, die Polen streiken nur und sind Krämer. Auf unserer Seite gab es manchmal Irritationen wegen des „preußischen Stechschritts“ und Mißtrauen, als plötzlich Friedrich II. und Bismarck in der DDR neu entdeckt wurden als Reformer und Staatslenker. Für uns sind es zynische Machtpolitiker, die den polnischen Staat zerschlugen bzw. die Polen in Preußen rücksichtslos unterdrückten. Welche Chancen und Gefährdungen für unsere Nachbarschaft gibt es heute auf Grund der Unterschiede im Geschichtsbewußtsein und in den historischen Erfahrungen?

Die Beziehungen zwischen der DDR und Volkspolen haben in der Tat bereits eine eigene Geschichte. Sie stellen vor allem, und das möchte ich wiederholen, die Fortsetzung der Tradition des gemeinsamen Kampfes deutscher und polnischer Revolutionäre, Patrioten, Demokraten, Kommunisten und Antifaschisten für Völkerverständigung, sozialen Fortschritt, nationale Freiheit und Frieden dar. Unser Arbeiter- und Bauern-Staat hat endgültig mit der preußischen Eroberungspolitik gebrochen, die über zwei Jahrhunderte das offizielle Bild der Beziehungen zwischen Deutschen und Polen geprägt hat. Das historisch neue Verhältnis zwischen unseren Völkern, das durch den Aufbau des Sozialismus diesseits und jenseits der Oder-Neiße-Grenze möglich wurde, ist eine bedeutsame Errungenschaft, die sich stabilisierend auf die Lage in Europa ausgewirkt hat.

Wir alle arbeiten unsere Geschichte auf. Es ist nur allzu natürlich, daß dabei bestimmte Ereignisse und Persönlichkeiten der Vergangenheit in den einzelnen Ländern differenziert gesehen werden. Das ergibt sich aus den unterschiedlichen historischen Bedingungen und Erfahrungen. Ich sehe darin, um auf Ihre Frage zurückzukommen, keine Gefährdung unserer Beziehungen.

Die deutsch-polnische Nachbarschaft war für die deutsche Linke kein leichtes Thema. Die deutschen Kommunisten waren keine Anhänger des Versailler Vertrages, der unter anderem Polen wieder die Unabhängigkeit sicherte. Auch der Überfall auf Polen 1939 wurde - gemäß der Stalinschen Politik - von vielen deutschen Kommunisten aus kühler Distanz gesehen. Heute diskutiert man in Polen, in der Sowjetunion, auch unter den Deutschen, alle Aspekte des Paktes Ribbentrop -Molotow, der eine Woche vor dem Überfall auf Polen die Einflußzonen der beiden Partner in Polen abgesteckt hatte. Welche Folgen können diese Diskussionen für die Zukunft haben?

In der Tat, die deutsch-polnischen Beziehungen waren durch die räuberische Politik besonders des deutschen Imperialismus und Faschismus belastet. Was jedoch die revolutionäre deutsche Arbeiterbewegung betrifft, so besitzt sie reiche Traditionen der Solidarität mit dem nationalen und sozialen Befreiungskampf des polnischen Volkes, die bis zum Wirken von Karl Marx und Friedrich Engels zurückreichen. Deshalb waren auch der Versailler Vertrag und die Anerkennung der wiedergewonnenen Unabhängigkeit Polens für die deutschen Kommunisten zwei verschiedene Dinge. Entschieden bekämpften sie den Versailler Vertrag, der den deutschen Werktätigen unerträgliche Lasten aufbürdete und den Keim für Revanchismus und Krieg in sich barg. Zugleich trat die Kommunistische Partei Deutschlands jeglicher polenfeindlichen Hetze der deutschen Reaktion entgegen und verteidigte die Unabhängigkeit Polens.

Man muß sich mit allem Nachdruck dagegen wenden, den deutschen Kommunisten „kühle Distanz“ gegenüber dem von Hitlerdeutschland überfallenen polnischen Volk unterstellen zu wollen. Schon in den ersten Septembertagen 1939 verurteilte die KPD den vom deutschen Faschismus entfesselten Raubkrieg auf das schärfste und rief zum Kampf gegen ihn auf. Es liegen in unseren Ländern zahlreiche Beweise dafür vor, wie unter den schweren Bedingungen der faschistischen Diktatur in Deutschland sofort vom September 1939 an deutsche Kommunisten, Sozialdemokraten und andere humanistische Kräfte polnischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern solidarische Hilfe erwiesen haben. Ich möchte daran erinnern, daß polnische Deportierte ihren Platz in der deutschen Widerstandsbewegung fanden und deutsche Antifaschisten in der Armia Krajowa und der Armia Ludowa kämpften.

Zu den Diskussionen über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23.August 1939 möchte ich bemerken, daß wir Wert darauf legen, jene politischen Umstände in den dreißiger Jahren aufzudecken, die letztlich der UdSSR keinen anderen Weg ließen, als einen solchen Vertrag abzuschließen. Wir meinen damit unter anderem die den Hitlerfaschismus begünstigende Politik der Westmächte, die alle Initiativen der Sowjetunion für die rechtzeitige Errichtung eines Systems der kollektiven Sicherheit gegen die faschistischen Aggressoren zunichte machte.

(Auszüge aus: 'Neues Deutschland‘ vom 7.9.)