VOR DEM UNAUSDENKBAREN KAPITULIERT

■ Raffael Rheinsberg und Lilli Engel in der Langemarck-Halle

Am ersten September wurde in der Langemarck-Halle unter dem Glockenturm neben der Waldbühne die Ausstellung „Zerstörte Bilder“ von Raffael Rheinsberg und Lilli Engel eröffnet. In meinem Lexikon steht unter Langemarck: „Gemeinde in Westflandern. Im Ersten Weltkrieg hart umkämpft. 10.11. 1914 Sturmangriff dt. Kriegsfreiwilliger (bes. Studenten -Regimenter).“ Ich hätte auch in dem Kurzführer nachsehen können, der im Aufzug zur Halle ausliegt, und dem ich entnehme, daß die Halle im Krieg zerstört und '62 wieder aufgebaut wurde. Ansonsten übt sich der Führer in Diskretion: die Nationalsozialisten als die Bauherren des Olympiageländes und damit auch der Halle werden nicht erwähnt, dafür aber, daß das vor dem Glockenturm gelegene Maifeld als Aufmarschplatz für die Truppenparade anläßlich des Geburtstages der englischen Königin diente.

Selbst jetzt, vor dem Einbruch der Dämmerung, während die Besucher der Ausstellung auf der Tribüne vor dem Feld ihren Wein trinken, der Rasen des Maifeldes sehr grün ist und weit und unschuldig, sieht es hier nach Menschenmassen aus, nach Aufmärschen und dirigiertem Jubel.

Die Langemarck-Halle selbst hat, obwohl nicht groß, die beklemmende Wucht nazistischer Architektur, die dadurch unterstrichen wird, daß an den Wänden, unverständlicherweise, immer noch gußeiserne Tafeln von SS -Divisionen hängen. Hier genau zwischen die steinernen Säulen hat Rheinsberg seine Fundobjekte ausgelegt, auf beiden Seiten der Halle in der Form eines exakten Rechtecks. Auf der einen Seite verrostete, unkenntlich gewordene Eisenteile, Granatsplitter, Schrauben, eiserne Alltäglichkeiten, deren ehemalige Funktion nicht mehr auszumachen ist. Sinnlose Überbleibsel ohne Zeichencharakter, ohne Bedeutung, einfach, was überbleibt. Auf der anderen Seite verrottete Handschuhe und Stiefel, ausgelegt in Reih und Glied, fein säuberlich getrennt, links die Handschuhe, rechts die Stiefel, je ein Exemplar eines Paares. Die Anhäufung der für sich genommen belanglosen Gegenstände fordert auf, neue Beziehungen herzustellen. Das Auge kann eine Unzahl überraschender und spannender ästhetischer Bezüge herstellen, gleichwohl ohne daß es sich auf eine bestimmte Lesart festlegen müßte.

Der Kontrast zwischen der geometrischen Akkuratheit der Rechtecke, und den in kein ästhetisches Schema passenden Teilen, erinnern an die Kreise und Rechtecke aus Steinen von Richard Long. Mit Long zusammen wurde Rheinsberg unlängst von Georg Jappe im Rahmen der Ausstellung „Ressource Kunst“ ausgestellt als Pionier einer Auffassung von Kunst, die sich als mimetisch versteht. Unter Mimesis, einer zentralen Vokabel im Werk Adornos, ist der Verzicht des Künstlers zu verstehen, seine Möglichkeiten der Gestaltung in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen. Der Künstler ist nicht mehr der omnipotente Macher, dessen Anliegen die Konstruktion einer je eigenen Sprache ist, vielmehr sucht er die schon vorgefundenen Qualitäten seines Gegenstandes zum Sprechen zu bringen. Die Forderung Goethes, einen Gegenstand nicht zu erforschen, sondern um ihn zu werben, wurde nach ihrer Verbannung aus der Wissenschaft Bestandteil bestimmter künstlerischer Ansätze. Die Arbeiten von Rheinsberg sind neben denen Ulrich Rückriems im Bereich der Skulptur vorbildlich für eine solche Auffassung.

Ihren Titel hat die Ausstellung von den Bildern Lilli Engels. Großformatige Tafeln, die sich von der Struktur der Wand vor allem dadurch unterscheiden, daß ihnen die Linien der Fugen fehlen, die die Steine voneinander trennen. Die Farben sind erdig, es herrschen Ocker- und Brauntöne vor, sorgfältig wird alles, was auf Dagewesenes hinweisen könnte, vermieden. Intendiert ist wohl nicht das Auslösen von Assoziationen durch Fragmente oder Überbleibsel, sondern die Arbeiten oszillieren zwischen der Ahnung vollständiger Auslöschung und der, daß immer etwas zurückbleibt. Sie ergänzen sich hier mit den Arbeiten Rheinsbergs.

Es mutet ausgesprochen kühn an, in dieser Halle auszustellen, in deren Architektur man zumindest im Nachhinein die Einstellung ihrer Erbauer projiziert, daß Geist Zweifel sei, und als solcher am besten psychisch auszumerzen. Einer Kunst, die sich hier präsentiert, kann das nicht gleichgültig sein. Sie muß sich auf den Ort einlassen, wenn sie nicht fehl am Platz sein will.

Die Differenziertheit des Rheinsbergschen Instrumentariums, geschult daran, die Atmosphäre von Orten in Gegenstände umzusetzen, greift hier zu kurz. Das Insistieren auf dem Konkreten von Geschichte schlägt um in abstrakte Unbestimmtheit: Eine Konzeption, die von der richtigen Einsicht ausgeht, daß die „großen Strukturen“ der Geschichte nicht ihr Ganzes seien, um Geschichte in bloßer Alltäglichkeit aufgehoben zu finden. Die Ausstellung von dem, was übrigbleibt, verblaßt angesichts eines Ortes, der so roh ist und eindeutig. Hier, wo es kein Nebeneinander von Raum und Kunst geben kann, erscheint es wie eine falsche Abstraktion, dieser Zeit umstandslos das Prädikat Geschichte zuschreiben zu wollen. Die zerstörten Bilder so gut wie die verrotteten Handschuhe und Stiefel regen an, sich Gedanken zu machen über das Vergängliche im Allgemeinen und den Tod im Besonderen. In dieser Umgebung, unter einem Vers Hölderlins, der so hetzerisch ist, daß die Achtung vor dem Dichter es mir unmöglich macht, ihn zu zitieren, wirken solche Gedanken paradoxerweise unangebracht.

Das Besondere an Langemarck und dem Dritten Reich war nicht, daß dort gestorben wurde, sondern, daß der Tod ein neues Gesicht bekommen hat. Langemarck, wo gestorben wurde nach dem Rhythmus von Maschinen, und die Lager, über die A. Andersch in „Efraim“ sagen läßt: „Sie töten euch nicht, wie man Feinde tötet, sie rotten euch aus wie Ungeziefer“, stehen für eine neue Art des Sterbens, angesichts derer die Beschäftigung mit „dem Tod“ zur Idylle gerät.

Kunst muß vor dem Unausdenkbaren nicht kapitulieren. Wenn sie gelungen ist, dann weil sie dem Einzelnen, der nicht mehr als Individuum ermordet wurde, sondern als Exemplar seiner Gattung (Adorno) seine Eigenheit zurückgibt. Sie verdeutlicht, daß Leid, undenkbar jenseits des Individuellen, seiner Würde nicht beraubt werden kann.

Ulrich Rüger

Die Ausstellung in der Langemarck-Halle ist noch bis zum 30.September zu sehen.