Die Angst vor den Buchstaben

■ Ohne Gedenktag denkt niemand an die Analphabeten in der Ersten Welt/ Mit dem Bild von den Außenseitern am Rand der Gesellschaft muß aufgeräumt werden / Interview mit Gunnar Borchardt, Dozent für Alphabetisierung an der Volkshochschule Spandau

Außer ein paar „Betroffenen“ und den wenigen um sie bemühten Einrichtungen hat gestern niemand wahrgenommen, daß ein weltweiter Gedenktag statt fand. Aus Anlaß des UNESCO-Tages der Alphabetisierung sprach die taz mit Gunnar Borchardt von der VHS Spandau über Analphabeten in Berlin.

taz: Analphabetismus: Das Wort hat für viele schon einen diskriminierenden Beigeschmack. Wie gehen Sie damit um? Verwenden Sie es, oder versuchen Sie es zu umschreiben?

Gunnar Borchardt: Wir befinden uns da in einer recht schizophrenen Situation, weil wir einerseits sehen, daß dieses Wort eine Stigmatisierung darstellt, andererseits ist dieses Wort auch bei uns nötig, um die Öffentlichkeit überhaupt auf die Problematik aufmerksam zu machen, daß es bei uns Analphabetismus gibt. In einem Land, in dem seit etlichen Jahrzehnten die allgemeine Schulpflicht besteht. Bei den Teilnehmern selbst versuchen wir es aber zu vermeiden.

Eine klassische Vorstellung über Analphabeten in westlichen Industrienationen geht davon aus, daß es sich um einige wenige handelt, die aufgrund von Kriegswirren, Krankheiten und individuellen Schicksalsschlägen nie richtig schreiben und lesen lernen konnten. Stimmt dies heute noch so?

Das kann man auf jeden Fall verneinen. Sonst wäre das Problem schon von der Natur her bei uns langsam ausgestorben. Ein großer Teil unserer Teilnehmer ist zwischen 20 und 40 Jahre alt. Also fast alle haben die Regelschule besucht. Bei ihnen haben bestimmte gesellschaftliche Bedingungen dazu geführt, daß sie die Schule nicht regelmäßig besucht haben oder dort gescheitert sind.

Eine große Rolle spielt da die Familie?

Ja, das ist richtig. Wir haben bei unseren Teilnehmern auch die Erfahrung gemacht, das bei Familien mit sehr vielen Kindern die Möglichkeiten für die Eltern nicht gegeben waren, ihre Kinder genügend zu fördern.

Welche Motive bringen Menschen in einen Alphabetisierungskurs?

Häufig hängt es mit Dingen, wie etwa Familiengründung zusammen. Wenn zum Beispiel der Ehepartner erfährt, daß der andere nicht schreiben und lesen kann. Oder wenn ein Kind gekommen ist und der Vater dem dann später beim Schulunterricht helfen will. Oder es sind zwingende berufliche Gründe.

Ein Großteil der Leute hat sich also jahrelang versteckt?

Ja. Aus Angst, die Schriftsprache anwenden zu müssen, haben viele berufliche Chancen jahrelang überhaupt nicht genutzt.

Wird nach über einem Jahrzehnt gezielter Alphabetisierung in Berlin nun langsam spürbar, daß die Zahl der Analphabeten abnimmt?

Diesen Eindruck haben wir nicht. Wir gehen eher davon aus, daß die Besucherzahlen bei uns nur deshalb stagnieren, weil seit geraumer Zeit Werbung nur noch über schriftliche Medien, also über Zeitungen gemacht wird. Das ist einfach unsinnig. Wir brauchen endlich eine vernünftige Werbung, die über den Sender geht. Und zwar über einen Sender, den viele Leute hören. Es nützt nichts, wenn abends um neun Uhr ein Werbespot im dritten Programm ausgestrahlt wird. Kaum Leute aus unserer Klientel sehen sich das dritte Programm an.

Welche Tendenz sehen sie für die Zukunft? Wird Analphabetismus bald der Vergangenheit angehören - oder durch elektronische Bildmedien sogar noch zunehmen?

Das geht in zwei Richtungen. Am Problem der Förderung von Kindern in großen Familien wird sich nichts ändern. Andererseits wird der Druck, der auf die Menschen entsteht, wenn sie an vollautomatischen Maschinen und Computern arbeiten müssen, immer mehr Leute dazu zwingen, vernünftig lesen und schreiben zu lernen.

Man muß aber auch damit aufhören, zu sagen, das sind ganz arme Leute, Außenseiter der Gesellschaft - und Angebote für alle Leute schaffen, die irgendwelche Schwierigkeiten mit Lesen, Schreiben, Rechnen und anderen Fertigkeiten haben.

Interview:Thomas Kuppinger