Thermische Veränderungen

■ Theodor Fontanes Stechlinsee im Atomzeitalter

Johannes Pernkopf

Hundert Kilometer nördlich von der westöstlichen Großstadt Berlin liegt, inmitten ausgedehnter märkischer Wälder und einer sich von hier aus ins Mecklenburgische hinziehenden Anhäufung von Seen, ein besonders tiefes und klares Exemplar: der Stechlin. Seen dieser Güte sollen sich sonst nur in den Alpen oder in Skandinavien finden. Die anderen ringsherum haben im Verlauf ihrer etwa zehntausendjährigen Geschichte, verstärkt aber natürlich in unserem Zeitalter, mehr Nährstoffe angereichert, ein vielfältigeres Organismenwachstum entwickelt: Der Lichteinfall wird dadurch früher gestoppt, das Wasser wird trübe.

Der Stechlinsee dagegen liegt in einem kargen Boden, weist ein nur geringes Einzugsgebiet und keinen natürlichen oberirdischen Zufluß auf. Er ist mit 68 Metern der tiefste weit und breit, ja der tiefste See der ganzen DDR. Weil seine Ufer ziemlich steil abfallen, hat sich nur wenig Schilf bilden können. In einem Liter seiner Wassergüte befinden sich vielleicht grade mal hunderttausend Bakterien, im Vergleich zu Milliarden in anderen Seen: Das entspricht praktisch Trinkwasserqualität.

Sporttaucher kommen hierher und finden auf dem Seeboden streckenweise eine dichte, wiesenartige Unterwasservegetation vor, die mit ihrem Kalkreichtum eine reinigende Wirkung erzielt. Früher haben die Bauern der Umgebung diese aus Armleuchteralgen bestehenden Pflanzen herausgefischt und zum Düngen ihrer Felder verwendet. In diesem See lebt auch die seltene Maräne, eine Lachsart. Stechlin - im Slawischen heißt „steklo“ Glas, und der Name Stechlin läßt sich mit durchsichtiger See oder reines Wasser ins Deutsche übertragen, ein schöner, ein vielversprechender Name...

Aber das Wort Faszination angesichts des Sees, wie er so daliegt, an einem sonnigen hemdwarmen Oktobertag, wo wir ihn besuchen, das wäre übertrieben. Dem Herantretenden springt die Klarheit nicht gleich ins Auge, der Stechlin schimmert in etwa blaugrün. Freilich, eine Wirkung der Ruhe, der Beruhigung geht von ihm aus. Gänzlich von Wald umgeben, haben seine Ufer etwas Stumpfes, Dämpfendes, was die schon vorhandene Stille nochmal steigert.

Der Schwarm von Erholungssuchenden und Touristen im Sommer hat nur wenige bleibende Zeichen gesetzt. Sogar im Zugangsbereich von Neuglobsow, dem einzigen Ort übrigens an seinem Ufer, sind die Bäume stehengeblieben: keine Schneise, keine asphaltierte Straße, nur ein Kiesweg ans Wasser. Der Fahrzeugverkehr wird schon vor dem Dorf durch ein Fahrverbot auf einen umzäunten Parkplatz abgedrängt und stillgelegt, für eine realsozialistische Mark Gebühr am Tag. Die Größe des Parkplatzes signalisiert aber auch das kalkulierte Andrangvolumen von Wochenenden und Urlaubszeit.

Wir aber haben es gut getroffen: Es ist Montag, und der Herbst eine gute Zeit für solche Unternehmungen. Die Gaststätten haben geschlossen, entweder weil Montag ist oder weil das Personal amtlich bescheinigten Urlaub macht, und eine wegen technischen Defekts. Der Lebensmittelladen wegen Montag. Hunger empfiehlt sich jetzt nicht, eher das Genießen eines verlassen wirkenden märkischen Dörfchens, die Ruhe eines ländlichen Tags.

In der Sonnenwärme einer Terrasse dösen ein paar ältere Feriengäste, die aber verschwinden, als drinnen Kaffee und Kuchen angeboten werden. Alles still hier, würde Fontane sagen.

An dem Stück Ufer, das man von Neuglobsow erreicht, führt ein Bootssteg nach zwei Seiten ins Wsser hinein. Das säuberlich grün gestrichene Kabäuschen darauf ist, wer hätte dagegen gewettet, ebenfalls geschlossen, das weitere Betreten des Stegs hier schriftlich untersagt. Es würde zwar kein Hahn danach krähen, aber wir lassen's bleiben. Ein paar Boote dümpeln im Wasser, angepflockt an Holzpfählen, auf denen Enten sitzen und irgendwann, auf ungehörtes Kommando, ins Wasser plumpsen, bis auf eine. Andere Boote sind herausgenommen und im Uferwald gestapelt, kieloben, damit kein Laub und kein Regen und im Winter kein Schnee sich darin sammeln kann. Vereinzelt hängen Bäume am Ufer seitwärts, der ganzen Länge nach hingeschrägt oder schon ins Wasser gezogen, als wären keine hundert Jahre vergangen: Dasselbe läßt sich auch bei Fontane nachlesen. Der Rundumweg ist auf einer hölzernen Tafel auf 17 Kilometer veranschlagt. Das wäre zu weit für den noch verbleibenden Tag; so halten wir uns gemächlich an das Ufer zur linken Hand und gehen, angeregt von so viel Ruhe, ganz einfach spazieren.

Gegen eine den Großstädter überkommende Lust aber, diese Natur in ihrer ganzen Reinheit auskosten zu wollen, steht am jenseitigen Ufer des Stechlinsees ein Betonschornstein, der zum Kernkraftwerk Rheinsberg gehört. Das jedenfalls habe ich einfach behauptet, ohne mir wirklich sicher zu sein. Wir hatten ihn schon vom Park des Rheinsberger Schlosses aus gesehen, erinnern wir uns, auch dort am Horizont jenseits des Sees, und unterwegs, auf der Autofahrt hier, immer wieder mal zwischendurch. Er hatte sich für diesen märkischen Landstrich als ähnlich aufdringlich erwiesen wie zeitweilige dumpfe Schüsse, die von einem militärischen Übungsgelände irgendwo in dieser Gegend herrühren mochten.

Nach einer Viertelstunde Uferwaldspaziergang stoßen wir auf eine Lichtung am See, wo, auf einer Wiese verstreut, metallische Geräte im Boden verankert sind und in der Sonne blitzen. Sie gehören zu einer hydro- und meteorologischen Meßstation. Gleich dahinter befindet sich, hinter einem Jägerzaun und in Backsteinhäusern ganz idyllisch gelegen, ein wissenschaftliches Institut mit folgendem Namen: „Außenstelle Stechlinsee der Forschungsstelle für Limnologie des Zentralinstituts für Mikrobiologie und Experimentelle Therapie der Akademie der Wissenschaften der DDR“. Dahinter folgt gleich wieder Wald.

Mit einem mächtigen Satz spüre ich mich aus der Natur heraus in die völlige Gegenwart versetzt. Waren beim Anblick des Sees und seiner Umgebung noch Jahrzehnte bis Jahrhunderte an Vergangenheit bis zu uns herauf zusammengeschmolzen, so war man spätestens beim Lesen des Institutsschilds unweigerlich im Heute gelandet.

Den Zusammenhang aber, der zwischen dem Betonschornstein im Hintergrund und den beiden Instituten auf der Uferlichtung besteht und ja nicht so ohne weiteres ersichtlich ist, den habe ich erst später durch beharrliches Suchen in Bibliotheken herausgefunden. Vielleicht hätte ich ganz einfach einen Ortsansässigen um Auskunft fragen sollen: Aber an diesem Tag erschien Neuglobsow wie verlassen.

Die meisten kommen an diesen See wegen seiner literarischen Topographie. Theodor Fontane hat ihn nicht nur in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg beschrieben, im ersten der sechs Bände, sondern einen ganzen Roman nach ihm benannt. Es war sein letzter, im Alter von fast achtzig Jahren verfaßt, und er ist verschiedentlich als sein Vermächtnis bezeichnet worden. Dieser Roman beginnt mit einer Art Liebeserklärung an den See:

„Im Norden der Grafschaft Ruppin, hart an der mecklenburgischen Grenze, zieht sich von dem Städtchen Gransee bis nach Rheinsberg hin (und darüber hinaus) eine mehrere Meilen lange Seenkette durch eine menschenarme, nur hie und da mit ein paar alten Dörfern, sonst aber ausschließlich mit Förstereien, Glas- und Teeröfen besetzte Waldung. Einer der Seen, die diese Seenkette bilden, heißt 'Der Stechlin‘. Zwischen flachen, nur an einer einzigen Stelle steil und kaiartig ansteigenden Ufern liegt er dann, rundum von alten Buchen eingefaßt, deren Zweige, von ihrer eigenen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer Spitze berühren. Hie und da wächst ein weniges von Schilf und Binsen auf, aber kein Kahn zieht seine Furchen, kein Vogel singt, und nur selten, daß ein Habicht drüber hinfliegt und seinen Schatten auf die Spiegelfläche wirft. Alles still hier.“

Ein ganzer Roman über einen See? Nein, der Stechlin wird nur selten angesprochen, er zieht sich aber als Symbol und Leitmotiv durch das ganze Buch, ist hinter den Zeilen präsent und schimmert ständig ein bißchen durch. Wichtig gerade am Stechlinsee war Fontane die Sage vom roten Hahn, der auf dessen Grund sitzen und dann heraufsteigen und in die Lande krähen soll, wenn ein Fischer an einer ihm nicht genehmen Stelle zu fischen wagt. Außerdem soll beim Lissaboner Erdbeben 1755 der Stechlin auffällige Bewegung in Form von Fontänen gezeigt haben, was Fontane zu dem Gedanken anregte, der See stecke in geheimnisvollen Verbindungen mit der ganzen Erdkugel und rege sich immer dann, wenn irgendwo was Größeres passiert. Immerhin, es soll Überlegungen gegeben haben, diesen See, wohl auf Fontanes Anmerkungen hin, als Vorwarninstrument für Erdbeben zu benutzen..

„Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an eben dieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei's auf Island, sei's auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich's auch hier und ein Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe. Das wissen alle, die den Stechlin umwohnen, und wenn sie davon sprechen, so setzen sie wohl auch hinzu: 'Das mit dem Wasserstrahl, das ist nur das Kleine, das beinah Alltägliche, wenn's aber draußen was Großes gibt, wie vor hundert Jahren in Lissabon, dann brodelt's hier nicht bloß und sprudelt und strudelt, dann steigt statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein. Das ist der Stechlin, der See Stechlin.'“

Fontanes Fünfhundertseiten-Roman ist nahezu ohne Handlung und besteht im wesentlichen aus Dialogen und Gesprächen der feineren Art. Sie sind kunstvoll arrangiert und sollen ein breites Spektrum damaliger gesellschaftlicher Tendenzen, Meinungen, Entwicklungen zeigen. Der Autor hatte seinerzeit Bedenken, wie die Leser dieses Buch aufnehmen würden, das von Stoff und Präsentation her nicht aus dem Holz war, aus dem gemeinhin Bestseller geschnitzt sind. Die zeitgenössische Kritik hat es dann zwar gelobt, aber wohl mehr aus Respekt vor dem alten preußischen Erzähler. Heute ist der Stechlin Fontanes See, sein Produkt sozusagen. Er hat ihn aus einer Vielzahl anderer herausgehoben, einen Zaubersee aus ihm gemacht.

Darauf hat sich auch der Touristenort Neuglobsow eingestellt, in dem es ein Fontanehaus gibt (er soll hier zu einer kurzen Rast abgestiegen sein), eine Fontanestraße (er wird hier entlanggefahren sein, da es die Hauptstraße Richtung See ist) und im Ortswappen einen roten Hahn. Eine gewisse Bescheidenheit ist trotzdem geblieben, eine gewisse östliche Art, Szenerien zu konservieren, Dörfer und Landschaften von menschlicher Hand und menschlichem Eingriff unberührt erscheinen zu lassen.

Das Schicksal des Stechlinsees, wenn man so will, ist eine andere Variante der Industriezeit geworden: Das Atomkraftwerk Rheinsberg leitet in genau diesen See sein erwärmtes Kühlwasser ein, in riesigen Mengen Tag für Tag.

Das lese ich aber erst in den Bibliotheken nach. Zurück vom Ausflug in die märkische Beschaulichkeit, versuche ich in West-Berlin, dem Stechlinsee auf diese Weise näherzukommen, auf entstandene Fragen in Büchern und Zeitschriften eine Antwort zu finden. Ich will den Meister Fontane mit dem Atomkraftwerk aussöhnen, einer Beklemmung durch die harte Konfrontation von Natur und technischer Neuzeit nachgehen.

Die Suche nach genaueren Daten und Informationen über das Atomkraftwerk und dessen Auswirkungen auf den See gestaltet sich schwierig. Warum gerade an dieser Stelle, frage ich mich, und finde folgenes Zitat: „Um Verschleppung von Radioaktivität durch Kühlwasser in bewohnte Gegenden im Falle eines unvorhergesehenen Verhaltens der Anlage auszuschließen, sollte das Kraftwerk nicht an einem Fluß errichtet werden, sondern in einem Seengebiet ohne wesentlichen Abfluß. Diese Voraussetzungen bietet der gewählte Standort.“

Das Atomkraftwerk Rheinsberg war das erste der DDR und wurde in der Sturm- und Drangperiode der Atomenergie Ende der fünfziger Jahre erbaut. Es war mehr als industrielle Versuchsanlage und Ausbildungsreaktor gedacht und ist, im Vergleich etwa zu den später erbauten vier Blöcken von Greifswald, die es auf 1.760 Megawatt Leistung bringen, auf spärliche 75 Megawatt ausgelegt. Vom Typ her ist Rheinsberg ein sogenannter Druckwasserreaktor, bei dem der Brennstoff, schwach angereichertes Uran in Form von kompaktem Material, von Wasser umspült wird. Die für diesen kleinen Reaktor immerhin schon notwendige halbe Million Kubikmeter Wasser täglich werden dem benachbarten Nehmitzsee entnommen und nach erfolgter Kühltätigkeit, um durchschnittlich zehn Grad erwärmt, dem Stechlinsee zugeleitet. Eine gigantische Wärmespritze, muß man sagen. Der Stechlinsee wiederum ist durch einen Kanal mit dem Nehmitzsee verbunden, so daß sich in einem künstlichen Kreislauf die Wassermassen langsam wieder ausgleichen. Die Abwärme soll sich bis dahin durch Verdunstung, Durchmischung mit normaltemperiertem Wasser und Wärmeabgabe an die Luft weitgehend verloren haben. Aber ein Temperaturanstieg zwischen einem und drei Grad, auf den ganzen See verteilt, bleibt bestehen, je nach Nähe zum Atomkraftwerk entsprechend mehr. So steht es in verschiedenen Darstellungen.

Da auch den Planern des Reaktors klar war, daß eine derartige Veränderung der Wassertemperatur, auf lange Sicht gesehen, nicht ohne Folgen für die Pflanzen- und Tierwelt des Sees und seiner Umgebung bleiben kann, wurden gleichzeitig mit den Baumaßnahmen für das Atomkraftwerk zwei Institute zur Erforschung der Umweltreaktionen gegründet: die Meßstation für Hydro- und Meteorologie und das limnologische, also seekundliche Institut in den ehemaligen Backsteingebäuden der Fischereigenossenschaft. Letzteres zog unmittelbar nach der vorübergehenden Unterbringung des Baustabs für das Kraftwerk dort ein: eine symbolische Nachfolge sozusagen, auch wenn sie ohne direkte Schlüsselübergabe erfolgt sein wird.

So erschließt sich auch die Bezeichnung „Institut für experimentelle Therapie“: Eine Forschungsstelle also, die von vornherein von der Kränklichkeit des Objekts ausgeht und ihre Aufgaben in Experimenten zur Wiedergesundung bzw. zur Schadensbegrenzung sieht. Bloß daß die Krankheit ja ziemlich bewußt herbeigeführt oder doch „billigend in Kauf genommen“ worden ist.

Bevor der Reaktor im Jahre 1966 ans Netz gehen sollte, mußten der Stechlin und seine Umgebung grundlegend erforscht und kategorisiert werden, damit für die zu erwartenden thermischen Veränderungen Vergleichsmerkmale zur Hand waren. Auf diese Weise kam der See zu der besonderen Ehre, eines der bestuntersuchten Gewässer der Erde zu sein. Die Hydrologen und Meteorologen erforschten systematisch die bestehenden thermischen und chemischen Verhältnisse, die Grundwassersituation, Klima, Verdunstung, Luft. Die Mikrobiologen von nebenan konzentrierten sich auf eine Bestandsaufnahme der Bakterien, der Algen, der Pflanzengesellschaften, der wirbellosen und Wirbeltiere des Stechlin. Sein Stoffwechsel wurde untersucht, die verschiedenen Schichten des Wassers in ihrem Verhältnis zueinander, und was mit heruntergefallenen Blättern im Verlaufe ihrer biologischen Auflösung geschieht. Eine bewundernswert akribische Einsicht eines Teams verschiedener Experten in das Ökosystem eines oligotrophen, also nährstoffarmen, Gewässers. Seit der Einleitung von erhitztem Kühlwasser, seit den mittlerweile über zwanzig Jahren des Atomkraftwerksbetriebs werden die Auswirkungen der thermischen Veränderungen des Stechlinsees fein säuberlich registriert.

Nach außen dringt davon nicht viel. Feriengäste, die hier baden, wissen in den wenigsten Fällen, daß das Wasser ein abgekühltes erhitztes ist.

In einer ganzseitigen Reportage der Ostberliner 'BZ‘ vom Oktober 1987 über eben diese mikrobiologische Forschungsstation wird der direkte Bezug zum Atomkraftwerk praktisch nicht erwähnt. Von allen vorhandenen Materialien werden die vorzeigbarsten Meldungen genommen und zu einem beschönigenden Artikel zusammengebraut, negative Trends entweder heruntergespielt oder als gelöst bezeichnet. Den Aufmacher der Reportage, in fünfzig Meter Tiefe könne man bei der Klarheit dieses Sees noch Zeitung lesen (sehr witzig), finde ich in einem Buch als Charakteristikum der Zeit vor dem Atomkraftwerksbetrieb, seit dem sich aber die Sichttiefe stark verringert hätte. Der ganze Artikel könnte als Schulbeispiel für gelungene Schönfärberei verwendet werden.

Das mikrobiologische Institut hat aber auch ein Buch über den Stechlinsee herausgegeben, einen wissenschaftlichen Wälzer, ein Wunderwerk an Fremdwörtern und Formeln, und noch dazu auf englisch, der Fachsprache der Seekundler: Lake Stechlin - a temporate oligotrophic lake. Ein Schalk, wer Böses dabei denkt, sage ich mir, und kämpfe mich mit Englisch- und Fremdwörterbuch durch eine mir vielleicht auch im Deutschen kaum verständliche Wissenschaftssprache, stets gewärtig, wenigstens hier auf eine Auflistung der Schädigungen zu stoßen, mit denen ja auch von staatlicher Seite mehr oder weniger gerechnet worden war. Gerade in einem der breiten Öffentlichkeit entrückten Fachbuch könnte man doch Klartext sprechen. Aber die Summe aller Beobachtungen wird in einem lapidaren Satz so beschrieben: „Trotz der beobachteten Tendenzen in Richtung Eutrophierung (Anreicherung von Nährstoffen), bedingt durch den Kühlwasserkreislauf, der seit nunmehr 18 Jahren besteht, hat der Stechlinsee seinen oligotrophen Charakter bewahrt.“

Zur Verdeutlichung einer doch nicht unerheblichen Schädigung, gleichzeitig aber auch der Schwierigkeit für einen Laien, sich deren Konsequenzen vorzustellen, empfiehlt sich dagegen folgendes Zitat aus einer DDR-Zeitschrift für Limnologie: „Die thermische Belastung des Stechlinsees zeigt folgendes Bild: 1. Die Aufwärmung im Winter bis etwa 20 Grad C führt zu einer Stimulierung der Planktonzönose, zu einer Unterdrückung der Winterstagnation und damit auch zu einer Vorverlegung der Frühjahrsalgenentwicklung. Das bedeutet eine Erhöhung der Stoffproduktion. Ebenso setzt die Periphytonproduktion wesentlich früher als in thermisch unbeeinflußten Seeteilen ein. 2. Die Aufwärmung im Sommer über 27 Grad C führt zu einer Schädigung der Planktonzönose und einer Freisetzung von Orthophosphat. Die Folge sind im Stechlinsee Veränderungen in der Phytonzönose: Auch im Sommer treten mikroplanktische Diatomeenpopulationen auf. Die Schädigung betrifft auch die Periphytonproduktion. 3. Im Bereich von 30 Grad C wird nicht die gesamte Zönose im gleichen Maß geschädigt. Die heterotrophe Bakteriozönose scheint eine besonders aktive Gemeinschaft auszubilden.“

Auch wenn Art, Umfang und Deutlichkeit der Informationen nicht gerade von einem Willen zur Unterrichtung der Bevölkerung zeugen, bleibt die Existenz der beiden Forschungseinrichtungen am Stechlinsee natürlich begrüßenswert. Daß Atomkraftwerke nun mal vorhanden sind und arbeiten, ist ja schlecht zu leugnen. Die damit verbundenen Euphorien einer Lösung aller Energieprobleme, die eine Zeit lang verbreitet worden sind, scheinen mittlerweile auch in der DDR, Tschernobyl macht's nötig, einer Desillusionierung gewichen zu sein. Frühere Pläne in dieser Richtung sind weitgehend zusammengestrichen worden, obwohl die Zukunftsplaner aufgrund der besonderen Rohstoffprobleme des Staates und der besonderen Umweltverschmutzung durch die verwendete Braunkohle viele Hoffnungen in die Atomenergie gesetzt hatten. Als wissenschaftliches Pendant zum Kraftwerk Rheinsberg bieten die Umweltbeobachter wenigstens eine Gewähr dafür, daß die Ökologie des Sees und seines Umlands unter Kontrolle bleibt, auch wenn die konkreten Daten nur in Expertenkreisen ausgetauscht werden. Die Erkenntnisse der Stechlinsee-Limnologen werden auch für die „Behandlung“ anderer belasteter Seen und Oberflächengewässer angewendet. In dringenden Fällen wird auch mal Fachpersonal abgezogen und an anderen wichtigen Stellen, etwa extrem verschmutzten Flüssen, eingesetzt.

Eine Beklemmung bleibt. Sie mag unwissenschaftlicher Art sein, weil sie keine Gegenbeweise vorlegen kann. Sie ist sogar „destruktiver Art“, weil sie sich bewußt gegen diese Art von „Fortschritt“ stellt.

Für den Stechlinsee mag nach außen noch alles in Ordnung sein. Aber ich sehe ihn, der im Winter kaum noch zufriert, wie einen Patienten vor mir. Immerhin in einem Krankenhaus erster Klasse, einem Regierungskrankenhaus. Ein Ärzteteam, bestehend aus Experten aller wichtigen Körperteile, bewacht ihn rund um die Uhr. Kabel führen vom Körper zu Monitoren, auf denen Leistungs- und Lebenskurven abzulesen sind. Herztöne werden in akustische Signale übertragen, das Krankenblatt wird stündlich beschrieben. Die täglichen Wärmespritzen, die der Patient verabreicht bekommt, sind in ihren Auswirkungen bis ins kleinste nachgerechnet und eingespeichert. Es besteht natürlich keine Gefahr, es ist alles unter Kontrolle, sagt der Pressesprecher des Krankenhauses auf der üblichen Pressekonferenz, und die anwesenden Journalisten können mit dieser Meldung nach Hause gehen, beruhigt oder nicht, das ist schließlich nicht das Problem des Pressesprechers...

Gegen diese Art von Wissenschaft halte ich es immer noch lieber mit Fontanes rotem Hahn, der verdächtig ruhig ist. Aber wer weiß, mit welchen Problemen er da auf dem Seengrund zu kämpfen hat? Ein Zitat, vor hundert Jahren geschrieben, scheint indes darauf gewartet zu haben, in diesen Jahren aus den Bibliotheken herausgeholt zu werden: „Da lag er vor uns, der buchtenreiche See, geheimnisvoll, einem Stummen gleich, den es zu sprechen drängt. Aber die ungelöste Zunge weigert ihm den Dienst, und was er sagen will, bleibt ungesagt.“

Zitiert wurde aus folgenden Büchern:

Theodor Fontane: Der Stechlin. Nachwort von Hugo Aust. Reclam Stuttgart 1979 (Reclam Universalbibliothek 9910)

Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Band I: Die Grafschaft Ruppin. Hrsg. von Walter Keitel. Ullstein 1974, S. 341

Theodor Schröder: Die Forschungsstelle für Limnologie der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. In: Limnologica 1 (1962)

Georg Mothes, R. Koschel und W. Scheffler: Einfluß der Aufwärmung eines Sees durch ein Kraftwerk auf Stoffproduktion und Phosphorhaushalt. In: Limnologica 10 (1976)