„Pommern und Schlesien sind keine deutschen Gebiete mehr“

Begrüßungsrede des Regierenden Bürgermeisters Momper zum „40.Tag der Heimat“ in der Sporthalle Charlottenburg, die dort tumultartige Szenen und ein „Pfui„-Ruf-Konzert von Angehörigen verschiedener Vertriebenenverbände auslöste  ■ D O K U M E N T A T I O N

Namens des Senats von Berlin begrüße ich Sie herzlich zum 40.Tag der Heimat in Berlin.

Man kommt nicht umhin, sich in diesen Tagen an den Beginn des Zweiten Weltkrieges vor 50 Jahren zu erinnern. (...) Tausende von Menschen verlassen ihre Heimat, kommen zu uns, weil sie nicht mehr in einem System oder in wirtschaftlichen Verhältnissen leben mögen, die ihnen nicht lebenswert erscheinen. Und die Verhältnisse in ihren Heimatregionen sind in der Folge des Zweiten Weltkrieges verändert worden.

(...) Ich bin durchaus nicht glücklich darüber, daß so viele aktive, junge Menschen die DDR verlassen, weil ihr Staat in einem Zustand der Erstarrung verharrt. Die DDR muß endlich damit anfangen, die Ursachen zu beseitigen, die so viele den Schritt zu uns wagen läßt. Aber ich sage auch mit Willy Brandt: „Ich kann doch den Stab nicht über Landsleute brechen, ...die den Krieg nicht mehr verloren (haben) als wir. Ich kann mich doch nicht hinsetzen und über (sie) richten, ihnen sagen, ihr dürft aber nicht (kommen).“

Arbeit und Wohnungen zu schaffen für alle, die jetzt zu uns kommen, ist eine gewaltige Aufgabe, die sich uns allen stellt. Da kann sich keiner zurücklehnen und sagen: Laßt mal die Regierung machen! Hier mitzuhelfen, die eigenen Erfahrungen und Kräfte einzubringen, ist eine aktuelle Aufgabe der Vertriebenenverbände. (...)

Wir sind es den Polen schuldig...

Und wenn ich nach Polen blicke, diese stolze, vielfach gebeutelte Nation, dann kann ich mich nicht einfach hinstellen und mit Interesse beobachten, wie dort der verfahrene Karren nicht von der Stelle kommt. Den Menschen dort muß geholfen werden, sie müssen Hoffnung schöpfen können. Demokratie ist zwar so wichtig wie die Luft zum Atmen. Aber Essen und Trinken muß man doch auch. Das eine haben sie sich selbst erkämpft. Beim anderen müssen wir ihnen helfen.

Das sind wir ihnen auch deshalb schuldig, weil wir Deutschen es waren, die sie in den Abgrund des Krieges gestürzt haben. Stalisnismus und Mißwirtschaft hat das polnische Volk sich nicht selbst ausgesucht.

Das sind wir ihnen auch schuldig - nicht nur den Polen allein - weil wir alle in einem gemeinsamen Haus Europa leben wollen. Da sollen doch die einen nicht komfortabel und die anderen in Armut leben. (...)

Die Folgen des Krieges sind bekannt: Abermillionen von Toten und Verstümmelten, für viele ein ungeliebtes politisches und wirtschaftliches System oder der Verlust der Heimat. Das gilt übrigens nicht nur für die Ostdeutschen, dieses Schicksal traf auch die einstigen Bewohner Ostpolens

-um ein weiteres Beispiel zu nennen - in gleicher Weise. (...)

Czaja unerträglich

und politisch schädlich

Daß so unterschiedliche Preise für den Krieg zu bezahlen waren, mag man als ungerecht empfinden. Aber das ist die Konsequenz dieses Krieges, genauso wie die heutigen Grenzziehungen. Ich finde es deshalb unerträglich und in höchstem Maße politisch schädlich, wenn Herr Czaja sich hinstellt und sagt, die Polen hätten Gebietsforderungen an uns. Und ich weise mit Nachdruck die Forderung der rechtsradikalen sogenannten „Republikaner“ zurück, deren Sprecher gar die Wiedervereinigung „in den Grenzen von 1937“ verlangte und den Bundespräsidenten diffamierte, dieser habe nicht für das ganze deutsche Volk gesprochen, wenn er für die Bundesrepublik Deutschland versichert, sie habe keinerlei Gebietsansprüche gegenüber Polen.

Das Deutsche Reich ist verspielt

Ich danke dem Herrn Bundespräsidenten für seine klare Aussage, die er in seiner Botschaft an den polnischen Präsidenten zum Ausdruck brachte. Denn wer, wie wir unter Hitlers Führung, einen Eroberungs- und Ausrottungskrieg beginnt, der darf nicht hinterher, wenn dieser Krieg verloren ist, ankommen und sagen: Gebt mir meinen Einsatz wieder! Der Einsatz war das Deutsche Reich. Dieses ist verspielt worden. Ostpreußen, Pommern, Schlesien waren deutsche Gebiete. Sie sind es nicht mehr.

Und ich sage auch: Wer heute von Grenzrevisionen spricht, der schafft Verunsicherung bei denjenigen, für die die Gebiete östlich von Oder und Neiße inzwischen Heimat geworden sind, weil sie lange genug dort leben oder gar dort geboren wurden und aufwuchsen. Wir wollen diesen Menschen ihre Heimat nicht mehr nehmen. Denn ein Unrecht - das der Vertreibung - kann nicht dadurch wiedergutgemacht werden, daß man diesem ersten Unrecht ein zweites hinzufügen will, indem man die jetzige Bevölkerung auch wieder vertreiben will. Aber etwas anderes kann ja wohl nicht hinter der Forderung nach der Rückkehr zu den Grenzen von 1937 stecken.

Lassen Sie uns doch ehrlich sein: Wie viele wollen denn tatsächlich noch zurück? Wie viele wollen denn tatsächlich noch dort leben?

Mit Interesse habe ich den Äußerungen gelauscht, die auf dem Schlesiertreffen von Teilnehmern vor den Fernsehkameras gegeben wurden. Ein alter Herr sagte, er würde sofort zurückgehen, „wenn die Verhältnisse dort so wären wie hier“. Ja, das glaube ich gerne. Aber die Verhältnisse sind nicht so. (...)

Da sollen doch, bitteschön, führende Vertriebenenfunktionäre nicht ankommen und Forderungen aufstellen, die den Bedürfnissen der meisten Menschen gar nicht mehr entsprechen, aber immensen politischen Schaden anrichten. Darüberhinaus diskreditieren sie die Aufbauleistungen der Vertriebenenverbände in den 40Jahren des Bestehens unseres Staates.

Die Sehnsucht

nach der heilen Welt

Allerdings verstehe ich den Wunsch nach Brauchtumspflege wie auch das Heimweh, das viele zu den Treffen der Vertriebenenverbände fahren läßt. Was Heimat bedeutet, nimmt man erst richtig in der Ferne wahr. Denn was ist sie anderes als die Sehnsucht nach einer heilen Welt von Kindheit und Jugend, nach einem vertrauten Zuhause, nach Wärme und Geborgenheit? Diese Heimat ist durch den Nationalsozialismus zerstört worden, weil die Heimatliebe vieler Menschen so schändlich mißbraucht wurde. (...)

Wenn wir heute von „Heimat“ reden, verstehen wir darunter sehr Verschiedenes. Heimat war für die Vertriebenen und Flüchtlinge der unmittelbaren Nachkriegszeit etwas anderes als für diejenigen, die heute zu uns kommen. Wiederum etwas anderes ist sie für die Menschen, die schon immer hier lebten oder seit langem ihre Heimat gefunden haben.

Welche Heimat

schützt eine Rakete?

Heimatliebe findet heute auch ihren Ausdruck im Kampf gegen die Vernichtung der Umwelt, gegen Wasser-, Boden- und Luftverseuchung, im Kampf gegen Giftgasdepots und Raketen! Ich frage ganz bewußt: Welche Heimat schützt eine Rakete, die zum Beispiel im Schwäbischen stationiert ist, deren Zielort aber vielleicht bei Liegnitz liegt? Auch deshalb appelliere ich an Sie, lassen Sie uns nicht mehr an den Grenzen rühren. Lassen Sie uns mitwirken am Prozeß der Abrüstung und der Vertrauensbildung, an der Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung. (...)