Ein Zeitungsmacher

■ Hubert Beuve-Mery war 25 Jahre lang Chef von 'Le Monde‘ gewesen. Mitte August starb er im Alter von 87 Jahren

Malte Rauch

Daß er der bedeutendste französische, ja europäische Journalist der Nachkriegszeit gewesen sei, darin waren sich (fast) alle Zeitungen rund um die Welt einig in der zweiten Augustwoche 1989, als Hubert Beuve-Mery 87jährig starb. Doch das ist nicht alles.

Gleich mehrere Generationen von Journalisten, Literaten, Politikern erinnerten sich leidenschaftlich an den „patron“, den Chef, den Lehrmeister, und mit ihm an „jene wahrhaftige Zeitung, von der Charles Peguy geträumt hat“. Wir alle - ja auch wir antiautoritären 68er - folgten diesem konservativen, schmucklosen, stets zu Vernunft aufrufenden Blatt 'Le Monde‘ bei seinem täglichen Rundgang durch die Welt, arbeiteten uns mürrisch durch Dokumente, Fakten und Meinungen, um - in El Salvador z.B. - die herrschende Politik auf den Begriff gebracht zu bekommen: „Die Option der 100.000-Leichen-Lösung.“ Wir regten uns darüber auf, daß ein früherer Foltergeneral in Algerien über „seinen“ Einsatz der Fallschirmjäger in Shaba im ehemaligen Kongo berichten durfte - unzensiert (daß es der ehemalige Foltergeneral war, der da westliche Bürger vor den aufständischen Schwarzen retten sollte, stand in einer Fußnote). Wir waren erschüttert von einer Glosse über Polizeiübergriffe gegen Nordafrikaner in Paris. Daß der Autor, Tahar Ben-Jalloun, ein großer Schriftsteller war, erfuhren wir erst Jahre später.

Ich merke gerade, daß alle Beispiele aus 'Le Monde‘, die mir spontan einfallen, aus der Zeit sind, als Beuve-Mery die Leitung schon abgegeben hatte. Aber sein Nachfolger Jacques Fauvet oder auch Pierre Viansson-Ponte, Dominique Pouchin (dessen Abberufung aus Portugal Mario Soares erfolglos forderte) und viele andere hatten die „le?ons du patron“, die Lehren des Chefs, beherzigt, wenn sie auch auf den Alten schimpften, der zwar 1969 abdankte, aber unterm Dach des alten Zeitungsgebäudes in der Rue des Italiens noch 20 Jahre lang sein Büro hatte, das er täglich und pünktlich morgens betrat und wie 25 Jahre lang zuvor „amtlich“, jetz „privat“, aber genauso zuverlässig um Mittag auf dem Weg zum Restaurant „Au petit riche“ zwei Straßen weiter gesehen werden konnte. Und da oben empfing er nicht nur Studenten, Forscher und Freunde. Er verschickte auch kleine krakelige Anmerkungen auf seiner Visitenkarte mit aufmunternden oder kritischen Hinweisen.

Was sind diese „le?ons du patron“?

Vieles wird sicherlich übertrieben, geradezu romantisch verklärt. Natürlich war 'Le Monde‘ nicht die große ideale Zeitung (und ist es heute unter Andre Fontaine noch viel weniger), aber es war eine Ahnung davon; ein erster Schritt. Beuve-Mery sagte einmal zu seinem ehemaligen Schüler und langjährigen 'Le-Monde'-Redakteur: „Wissen Sie, der Journalismus nützt überhaupt nichts, oder fast überhaupt nichts.“ Woraufhin ihm Bertrand Poirot-Delpech (späteres Mitglied der Academie Fran?aise) sagte: „Alles ist in dem fast!“ und überschwenglich erinnerte er sich jetzt in seinem Nachruf: „Der junge Zeitungsdirektor - er war unter 50 in diesem Juni 1951 - hatte sich den größten Luxus geleistet, nämlich den, von den Leuten, die man verachtet, gefürchtet zu werden; dabei ging er von Nichts aus, von jenem Grundstoff, der an der Börse kaum bewertet wird und den man die Wahrheit nennt. Dieser arme Echte hatte all die Geldleute im Nacken und an den Rockschößen, aber er hatte den herrschaftlichen Hochgenuß erkannt, gegenüber den Wichtigen, den Anerkannten, den Schwätzern 'Nein'“ zu sagen.“

Der Weg dieses in Paris geborenen Bretonen wurde von Anfang an von einem Katholizismus der Armut geprägt. Liberaler Katholik, strenger Demokrat, ein Skeptiker, der schon mit 40 unter der Vichy-Regierung „die ganze Runde von Feigheit und Verrat mitgemacht hatte“, wie ein Freund der Zeitschrift 'Esprit‘ über ihn schrieb; von Machtbesessenheit, falscher Autorität und Korruption hatte er ebenfalls reichlich mitbekommen.

Aber „Monsieur-das-muß-schiefgehen“ - wie ihn de Gaulle später wegen seines Pessimismus verächtlich nannte - gab tatsächlich nie seinen Optimismus auf, hielt immer das „Gewicht der Entscheidung“ gegen die Resignation. In der Resistance hatte er zur intellektuellen Elite um die Zeitschrift 'Esprit‘ gehört, wo er eine bewaffnete Einheit gegen die Besatzungstruppen anführte. „Unsensibel für die Romantik einer Zeit, die nie wieder kommen würde, schoß er mit seiner Maschinenpistole und murmelte dabei: „Was für ein Blödsinn, die schießen einfach, ohne auch nur aufzupassen.“ So der Bericht seines Freundes jetzt in einem Nachruf, der mit den Worten endet: „Er war damals schon mein Chef, lange bevor er mein Freund wurde.“

„La presse pourrie“ (die verrottete, verkommene Presse); „l'argent“ (das Geld) und „la frime (die Fratze, die Heuchelei) waren Beuves erklärte Hauptfeinde und - die Popularität. Jenes Klima der hohen Einschaltquoten war ihm verhaßt. Der Journalist soll nicht populär sein, er soll Beachtung finden, Erwägung (consideration). 'Le Monde‘ tat fast all das nicht, von dem man sagte, es bringe hohe Auflagen, und verkaufte schließlich doch bis zu 500.000 Stück täglich - an wichtigen Tagen 700.000, ja 900.000 Exemplare, und vor allem in der Provinz.

1944 hatte De Gaulle die Gründung von 'Le Monde‘ veranlaßt, als repräsentatives Blatt Frankreichs in der Welt; ähnlich wie damals auf Betreiben Ludwig Ehrhards bei uns die 'FAZ‘ entstanden ist. 'Le Monde‘ wurde auf den Trümmern der alten 'Le Temps‘ gegründet, deren Prager Korrespondent Beuve-Mery eine Zeitlang war, bevor er kündigte und in die Resistance ging. 'Le Temps‘ war das Sprachrohr des Montanindustrie -Verbandes geworden und zuletzt ein Modell von „presse pourrie“. Deshalb wurde auch 'Le Monde‘ und dessen - von De Gaulle gewünschter - Direktor, Hubert Beuve-Mery, vom ersten Tag an bekämpft, besonders von den Kommunisten, aber auch von allen anderen, deren Zeitungen noch in der Resistance entstanden waren und jetzt unter der Papierknappheit zu leiden hatten. Doch anders als die 'FAZ‘, die ihre Patronage durch Ehrhard und die Deutsche Bank bis heute nicht überwunden hat, wurde 'Le Monde‘ schnell zum kritischen Gegenspieler De Gaulles und der Machtelite aus Politik und Wirtschaft. Die Leitartikel von Sirius, hinter denen jeder Beuve-Mery wußte, wurden so etwas wie eine moralische Opposition in Frankreich, oder - wie es andere nannten eine „Institution des Defätismus“.

„Sie sind wie Mephisto“, sagte ihm De Gaulle noch kurz vor seinem Tode auf einem Empfang und brummte den verdatterten Beuve-Mery auf deutsch an: „Mephisto zu Faust: 'Ich bin der Geist, der stets verneint.'“ - „Nicht immer, mon general, Sie wissen, daß ich nicht immer 'nein‘ gesagt habe“, war die Antwort Beuve-Merys.

„Die meisten außenpolitisch orientierten Leitartikel von Sirius gaben den öffentlichen Rhythmus der Nachkriegsgeschichte Frankreichs an“, schreibt 'Liberation‘ in ihrem Nachruf, „man wird Hubert Beuve-Mery vor allem dafür dankbar bleiben, daß er die Folterungen der französischen Armee im Algerienkrieg auf der Titelseite von 'Le Monde‘ angeprangert hat, in einer Zeit, wo die herrschende Meinung in der Presse Augen und Ohren zugunsten der Regierenden verstopfte, darunter der Sozialist Guy Mollet, der dem Leitartikler noch lange nachstellte dafür, daß er laut gesagt hat, was man bis dahin schamhaft verschwiegen hatte.“ Dennoch war Beuve-Mery kein Militanter, und er war auch im Mai 68 eher ein Gegner der Revolte: „Die Zeitung muß sich aus allen politischen Kampagnen raushalten (de tout militantisme)“, sagte er. „Was nicht ein Engagement in einem bestimmten Moment ausschließt.“

Der Gründer von 'Le Monde‘ hatte seinen Auftrag von Anfang an nicht als einen privaten, persönlichen, sondern als einen öffentlich-rechtlichen verstanden: „Würde es die gegenwärtige Situation, die von Krieg und Befreiung geprägt war, vielleicht ermöglichen, ein neues Organ zu schaffen, das von jeder politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Unterwerfung befreit wäre; mußte man nicht das Abenteuer wagen?“ fragte er 1944.

Nach drei Jahren schien der Traum schon aus. Als sich 'Le Monde‘ nicht zwingen ließ, kritische Stimmen zum Projekt des Atlantikpaktes zu unterdrücken, sondern eine umfangreiche Debatte mit Analysen, Hintergrundberichten, Meinungen in seinen Spalten veröffentlichte, galt das als Skandal, Verrat an den Amerikanern, neutralistisch etc. Die zwei Mitherausgeber Beuve-Merys trugen diese Kritik ins Blatt. Sirius, der sich für ein unabhängiges Europa außerhalb der Machtblöcke einsetzte, steckte zurück. Um zu verhindern, daß alle außenpolitischen Manuskripte den Herausgebern vorgelegt werden müssen, bot er seinen Rücktritt an. Doch die linken Pariser Zeitungen hatten ihre Feindschaft gegen 'Le Monde‘ nach und nach aufgegeben, allen voran 'Combat‘, damals von Albert Camus geleitet. Sie unterstützten Sirius. Die links -katholische 'Temoignage Chretien‘ schrieb nach der Kündigung Beuves:

„Sympathie dem Ex-Direktor der 'Monde‘... Zu meiner Sympathie gesellt sich der Ausdruck der Traurigkeit und des Zorns. Ihr (von 'Le Monde‘) habt ein Werk zustande gebracht, das in der Geschichte der französischen Presse zählen wird: eine seriöse und redliche Zeitung, intelligent, unabhängig und von seinen Lesern respektiert. Ein wenig von jener 'wahren Zeitung‘, von der Peguy geträumt hat...

Vor dem Chaos und der Verwüstung, die das Panorama der heutigen Presse zeigt, vor den Haufen glitzernder und verlogener Sensationen, den Irrtümern, Mutmaßungen und Dummheiten, vor dem Merkantilismus des bedruckten Papiers und dem ununterbrochenen Appell an die Innereien der Massen, vor dem Abort der (verfrühten) Träume der Befreiung; aber wenn wir zur Bitterkeit und zur Verzweiflung neigten, dann trösteten wir uns, wir anderen, Fußgänger der Presse, Rekruten des Journalismus, indem wir uns sagten: immerhin, es gibt 'Le Monde‘: was wird aus uns, wenn 'Le Monde‘ jetzt verschwindet? Was wollen Sie, lieber Freund? Eine unabhängige Zeitung, frei und ohne Rücksicht aufs Geld, auf die Parteien, die Blöcke und, trotz einiger hartnäckiger Legenden, auf die Regierung; kann so etwas bestehen? Schon seine Existenz beleidigte unsere Zeiten - nos temps (ohne Wortspiel) - des Hyperkapitalismus, des Monolithismus, des Totalitarismus... und die Häßlichkeit der Worte vermittelt schon die Niedrigkeit der Dinge... Unabhängigkeit? Freiheit?... Unbekannt... Habe ich keine Eintragung in meinen Akten... Gleichschritt, Kamerad, Gleichschritt...“

Das Wortspiel bezog sich auf eine Zeitungsneugründung: mit Millionenbeträgen hatten proatlantische Kreise aus der Großindustrie 'Le Temps de Paris‘ gegründet, die mit amerikanischem Geld auf blau-weiß-roten Plakaten warb: Defätisten lesen nicht 'Le Temps de Paris‘. Doch nicht nur linke Zeitungen engagierten sich für Beuve-Mery. Die Journalisten von 'Le Monde‘ weigerten sich, für die neuen Chefs zu arbeiten; alle Versuche, sie fürs Doppelte bis Zehnfache ihres kargen 'Le Monde'-Solds abzuwerben, scheiterten (mit zwei Ausnahmen). Als schließlich auch die Leser sich in Leserkomitees organisierten, ebenfalls zu streiken begannen und Druck auf die Politiker machten, mußte Beuve-Mery zurückgeholt werden. Er kam mit der Bedingung zurück, daß die Journalisten von 'Le Monde‘ wie auch die Angestellten eine Sperrminorität des Kapitals bekamen. Ein Redakteursstatut folgte. Der gesamte Geldverkehr der Zeitung wurde - auf Anregung Beuve-Merys - ohnehin schon in regelmäßigen Abständen veröffentlicht. 'Le Temps de Paris‘ scheiterte. „Optimisten lesen sie auch nicht“, höhnte der 'Canard‘.

In derselben Zeit, als 'Le Mondes‘ Zukunft als unabhängige Zeitung so gesichert wurde (auch wenn später Polizei und sozialistische Premiers, Geldsäcke und neunmalkluge Intellektuelle fast unablässig 'Le Monde‘ weiter ans Leder wollten), ereignete sich in der BRD ein ganz ähnlicher Vorgang. Paul Sethe, Mitherausgeber der 'FAZ‘ und Befürworter eines blockfreien Europas, hatte das Mißfallen Konrad Adenauers und seiner Atlantiker erregt. Er mußte gehen, und niemand konnte ihn zurückholen. 'Die Welt‘, in ähnliche Finanzkrisen gestürzt wie 'Le Monde‘, wurde an Axel Springer verkauft, mit den Folgen, die wir kennen.

„Ich kann Ihnen wenig bezahlen“, sagte Beuve seinen Journalisten, „aber dafür können Sie ja auch stolz sein, bei einer guten Zeitung zu arbeiten.“ Die Journalisten blieben bei der Stange, die Leser auch.

Als die ersten Menschen auf dem Mond landeten, 600 Millionen Erdenbewohner „live“ dabei waren, die 'Bild' -Zeitung sich vor Begeisterung Mond-Zeitung nannte, stellte Sirius, der leidenschaftliche Verfechter einer Modernisierung Frankreichs, vor allem die Frage, wozu das gut sein soll. Lernfähigkeit ist vielleicht Beuve-Merys stärkstes Element gewesen und auch das der Zeitung. Diesen eisernen Patron im stets untadeligen dunklen Anzug mit Krawatte nannten Freunde einen Abenteurer; allerdings einen, der seine Abenteuer genau kalkuliere.

Als schon bald nach Kriegsende ein kommunistischer Arbeiter einen Leserbrief an 'Le Monde‘ schrieb, in dem er seine Situation schilderte und 'Le Monde‘ als die Zeitung der Bourgeoisie anprangerte (was sie sicher immer auch war), wurde nicht nur der Leserbrief ungekürzt veröffentlicht. Einer der besten Reporter wurde zu dem Mann geschickt, um eine Reportage über seinen Alltag zu machen. Es war der Auftakt zu einer längeren Debatte und Berichterstattung über die Klassenunterschiede in Frankreich. Beuve-Mery, der kühle Skeptiker, besuchte schließlich selbst die Familie und befreundete sich mit ihr.

Als wir ihn einmal fürs Deutsche Fernsehen interviewen wollten, fragte Hubert Beuve-Mery erstaunt: „Interessiert das denn die deutschen Zuschauer?“ „Im Prinzip nicht“, sagten wir, „aber wir wollen es trotzdem versuchen.“ Diese spontane Antwort hatte sofort seine Wellenlänge erreicht. Das berühmte defätistische Zucken um die Mundwinkel, das dem neugierigen und optimistischen Leuchten im Auge stets zu widersprechen schien, wich einem offenen Lachen, und mit einem „Eh bien, versuchen wir's, wenn's nichts wird, machen wir halt was anderes“, konnten wir beginnen.

Seine erfreulichste Erinnerung? Neben den Erfolgen der Gründerjahre erzählte uns Hubert Beuve-Mery, wie die Kommunisten ihre Anhänger stets mahnten, doch 'L'Humanite‘ zu lesen statt die bürgerliche 'Le Monde‘, und als Parteichef Georges Marchais beim großen Parteitag immer wieder vom Gelächter der „Massen“ unterbrochen wurde und nicht recht wußte, warum. Er hatte seine Zahlen, Zitate und Informationen immer wieder aus 'Le Monde‘ zitiert; „Und den Bischöfen ging es oft ganz ähnlich“, freute sich Beuve - 76 Jahre alt - wie ein erfolgreicher Volontär, „sie wollten natürlich, daß ihre Schäfchen 'La Croix‘ lasen und nicht 'Le Monde‘.“