Bitte um Reform

■ Ein halbherziger Brief der evangelischen Kirchenleitung der DDR an Erich Honecker

Die evangelische Kirche der DDR ist wahrlich in keiner beneidenswerten Lage. Mit jeder Anstrengung, ihre Basis nicht vollends aus den Augen zu verlieren, riskiert sie einen weiteren Konflikt mit der Staatsmacht. Denn deren Toleranz gegenüber der Kirche reicht eben nur bis dahin, wo der kleinlich definierte Bezirk seelsorgerischer Arbeit endet. Genau - und nur aus diesem Grund ist die Verlesung des Honecker-Briefs vor den sonntäglichen Gemeinden bemerkenswert. Denn bislang erschöpfte sich der Beitrag der Kirchenoberen zur aktuellen Ausreisekrise in stereotypen Bleibeappellen. Daß dabei vorsichtig andere Töne mitschwangen als in der selbstzufrieden-absurden SED -Propaganda, änderte nichts an der gemeinsamen Priorität des vorbehaltlosen „bleibt im Lande“.

Gemessen daran deutet die sonntägliche Unbotmäßigkeit zumindest auf Irritationen hin. Auch der Kirchenführung scheint der Totstellreflex der SED mittlerweile zu riskant. Zudem ist der bislang gepflegte Dialog mit dem Staat offensichtlich gescheitert. Doch eine neue Kirchen-Strategie - die sich nicht mehr auf Absprachen hinter verschlossenen Türen gründet, ist nicht in Sicht. Wenn das Papier jetzt die Ratlosigkeit der Kirche eingesteht, so bezieht sich das nicht nur auf die aktuelle Krise der DDR, sondern zugleich auf den diplomatisch-lavierenden Kurs, den sie bisher im Umgang mit dem Staat favorisierte.

Daß es noch lange dauern wird, bis sich die Kirche aus der jahrelang eingeübten Bittstellerposition herausgearbeitet hat, das macht auch die Ansprache vom Sonntag überdeutlich: Reiseerleichterungen werden „erbeten“. „Vertrauen zur Arbeit der staatlichen Organe“ wird - vorauseilend für den Reformfall - in Aussicht gestellt. Damit jedoch dürfte ein Staat kaum zu locken sein, der noch immer darauf setzt, fehlende Legitimation mittels Repression zu kompensieren. Das sollte mittlerweile auch die Kirchenleitung begriffen haben. Das Scheitern des Dialogs muß sie jetzt mit klaren gesellschaftspolitischen Forderungen, der offensiven Aufkündigung seelsorgerischer Bescheidenheit beantworten. Reformen in der DDR jedenfalls sind ohne Konflikt nicht mehr zu haben. Wenn die Kirchenleitung diese Auseinandersetzung scheut, sollte sie sich mit ihrer Ratlosigkeit bescheiden.

Matthias Geis