„Die Polen erwarten Hilfe, weil die Bundesrepublik reich ist“

Angelika Beer, Grünen-Bundestagsabgeordnete, reiste als Mitglied einer Bundestagsdelegation zu einem Treffen junger europäischer Abgeordneter nach Polen / Anlaß war das Gedenken an den 1.September 1939 / Polen ist um Aussöhnung bemüht / Deutsche Schuld am Krieg war kaum Thema  ■ I N T E R V I E W

taz: Welche Rolle hat während Eurer Reise das Datum 1.September gespielt? Welche Verbindung wurde gezogen zwischen dem Überfall auf Polen 1939 und den deutsch -polnischen Beziehungen jetzt?

Angelika Beer: Offizieller Anlaß war der 1.September. Ich hatte allerdings oft das Gefühl, der 1.September ist nur ein Vorwand für das Treffen. Die Polen schienen aufgrund ihrer aktuellen politischen und vor allem wirtschaftlichen Situation sehr vorsichtig zu sein. Ich hatte den Eindruck, sie fürchten, irgendwelche Kontakte, die es zu deutschen Parlamentariern gibt, zu gefährden, wenn sie deutsche Verantwortung für den Krieg zum Thema machen. Es wurde kaum direkt an die deutsche Verantwortung erinnert, sondern nur allgemein an das Grauen des Zweiten Weltkrieges. Es wurde ganz deutlich, daß die wirtschaftliche Notsituation in Polen als erster Punkt für die Polen selber auf der Tagesordnung steht.

War die hierzulande neu aufgeflammte Diskussion über Polens Westgrenzen ein Thema? Löst diese Diskussion dort Ängste aus?

Sie war immer Thema, aber löst kaum konkrete Ängste aus. Man hat gemerkt, daß der deutsche Überfall auf Polen dort nicht vergessen ist. Schon deswegen nicht, weil die wirtschaftliche Misere heute nicht nur mit den Versäumnissen der kommunistischen Führung erklärt wird, sondern auch mit den Folgen des deutschen Vernichtungsfeldzuges. Die Polen beobachten sehr aufmerksam, sehr skeptisch die Entwicklung im rechtsradikalen Raum hierzulande. Die aufgeflammte Grenzdiskussion läßt meiner Ansicht nach die Polen vor allem befürchten, daß dies die Entspannung gefährdet, die langsame Auflösung der Blöcke wieder stoppt.

Hattest Du den Eindruck, die Polen verknüpfen den Jahrestag des Kriegsausbruchs mit der erhofften bundesdeutschen Wirtschaftshilfe?

Nein, das geschah kein einziges Mal - weder innerhalb des Forums, noch auf der Straße oder in Gesprächen mit der polnischen Bevölkerung. Allerdings wird unabhängig von der Schuldfrage erwartet, daß die Bundesregierung ihre bisherige Zurückhaltung aufgibt und anläßlich dieses Tages das Versöhnungsangebot der Polen annimmt und ihnen gleichzeitig hilft.

Die Polen sind sehr selbstbewußt, sehr stolz. Sie sind stolz darauf, daß es ihnen gelungen ist, so viel von dem, was in Schutt und Asche lag, wieder aufzubauen. Sie sind stolz darauf, daß sie es geschafft haben, ihre eigene Nationalität zu wahren. Und dieser Stolz verbietet es, diese Verknüpfung überhaupt herzustellen. Allerdings finden sie ihren Anspruch auf Hilfe durchaus berechtigt, weil die Bundesrepublik sehr reich ist und diese Hilfe leisten kann.

Wurde die Verbindung 1.-September-Überfall auf Polen denn innerhalb der deutschen Delegation gezogen?

Ja, und zwar auf ein Weise, daß ich als Polin manchmal aufgeschrien hätte vor Entsetzen. Zum Beispiel Uta Würfel von der FDP hat den 1.September mit der wirtschaftlichen Notlage verknüpft und beides zusammen als den richtigen Moment bezeichnet, um die Rechte der deutschen Minderheit in Polen einzuklagen. Oder Roettgers von der CDU argumentierte, deutsche Soforthilfe würde von der Bevölkerung hierzulande nicht akzeptiert, weil die Deutschen sauer auf die vielen Polen sind, die in die BRD kommen.

Ist die immer wieder hinausgezögerte Kohl-Reise angesprochen worden?

Immer wieder wurde der Wunsch geäußert, daß Kohl kommt. Immer wieder wurde auch die Meinung vertreten, die BRD versuche schon seit geraumer Zeit, enge Kontakte zu Polen zu verhindern - obwohl die Polen den bundesdeutschen Forderungen nach einer Verbesserung der Situation der deutschen Minderheit dort nachkommen, obwohl sie ihr System ändern, obwohl sie die Grenze der Selbstverleugnung teilweise überschreiten, aus der Hoffnung heraus, etwas von der reichen Bundesrepublik zu bekommen.

Interview: Ferdos Forudastan