"Deep Sleep"

■ Betr.: "Plane Geschichten, fade Kost", taz vom 31.8.89

betr.: „Plane Geschichten, fade Kost“, taz vom 31.8.89

Der Artikel erschien einen Tag zu früh: Das absolute Highlight, Adriana Boriellos Scirocco war der Rezensentin ganz offenbar entgangen.

Sehr gut, die Kritik an der Präsentation von Deep Sleep. Und dennoch wäre es unzulänglich, das Statement in seiner Kürze stehen zu lassen. Ganz sicher langweilten die Akteure. Gewiß dominierten die Schatten auf den Leinwänden, auch im Hinblick auf Spannung und Ausdruckskraft über die real anwesenden Darsteller. Und genau hier ist der Platz für ein „Aber“: Aber die Schatten beherrschen ja auch das Handeln und Verhalten der realen Figuren in der Konstruktion dieser Performance.

Im übrigen greift dieses Motiv zum einen auf archaische, animistische Traditionen zurück und auf Traditionen des phantastischen US-Films der späten fünfziger Jahre, wo äußerlich den Menschen gleichende Schattenwesen, materielose oder in ihrem Aussehen variable Außerirdische die Herrschaft über Individuen und Gemeinschaften zu gewinnen trachten.

Immerhin, die Spannung zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Schatten und Lebenden, erzeugt Zustände, in welchen die Fiktion, der Schatten, die Herrschaft über die Realität bereits angetreten hat. Günther Anders brachte schon in den fünfziger Jahren diesen Zustand auf die Formel: Die Welt als Phantom und Matrize. Horkheimer und Adorno machten sich in der Dialektik der Aufklärung sogar noch ein Jahrzehnt früher Gedanken über das Verhälntis zwischen medial vermittelter Fiktion und Realität, als solches von Fiktion und gesellschaftlicher Herrschaft über das Individuum.

Auch in Deep Sleep erscheint die Welt, nämlich eine Welt in der Medien und medial vermittelte Bilder und Vorstellungen Realität sind, unter der Fragestellung: Beherrschen die Medien die Realität, oder beherrscht die Realität die Medien. Und das ist die immer noch aktuelle Frage: Die Welt als Phantom und Matrize.

Was geschieht in Deep Sleep? Einige Figuren bekommen von einigen Schattenbildern auf den Leinwänden Gespräche aufgezwungen. Diese Situation entwickelt sich zur Bedrohung für die realen Figuren. Jesurun und sein Team stehen in einer langen Tradition der Schilderung fiktiver Situationen zur Auseinandersetzung um das Verhältnis von Medium und Wirklichkeit.

Lion Feuchtwanger schildert 1930 in seinem Roman Erfolg den Versuch eines Kinobesuchers, mit den Schattenbildern auf der Leinwand zu kommunizieren. Nur liegt dem Film in Feuchtwangers Roman eine aufklärerische, emanzipatorische Intention zugrunde, und der Kinobesucher ist der Reaktionär, der seine Rückständigkeit in seinem Unverständnis der technischen Neuheiten zur Schau trägt, indem er mit den täuschend echt und lebendig aussehenden Schatten auf der Leinwand kommunizieren, auf ihr Verhalten und Reden Einfluß nehmen will, während die Schatten - auch schon bei Feuchtwanger - die Lebenden in ihrem Denken und Handeln zu beeinflussen trachten (sollen). Doch aus der Utopie der aufklärenden Schatten ist inzwischen der Alptraum der Herrschaft der Schatten geworden. Historisch und sozial: siehe Adorno, Anders, Horkheimer uva. Ein Versuch der fiktiven Gestaltung: Deep Sleep.

Das Thema ist alt, doch noch immer aktuell. Gewiß ist es auch vielfältig gestaltbar und spielbar - nur der Versuch John Jesuruns ist in der Tat mißlungen. Warum? Diese Produktion ist eine Rückkehr zum pergamentenen, zähledernen Ideentheater im Gewand der Avantgarde. Postmodern aufklärerisch werden Kopf und Bauch voneinander getrennt, und: eine Langeweile stellt sich ein, wie sie kaum noch von Goethes Tasso überboten werden kann.

Auf Tasso weise ich nicht allein, weil die Langeweile dieses Dramas kaum zu überbieten ist, sondern weil Deep Sleep offensichtlich Tasso als Zitat enthält. Wie Goethe macht Jesurun den neugierigen, verträumten, musischen Dichtertypus zum Schlafwandler, der zum Opfer wird, indem er naiv in alle Fallen der realpolitischen Wirklichkeit tappt. Nur sind die Hofintrigen zur Medienwirklichkeit geworden. Boshaft ließe sich gar sagen: Was sich hier als Avantgarde kostümiert hat, bedeckt nur spärlich einen verborgenen Kulturkonservativismus. (...)

Curt Rutz, Hamburg 50