: „Schwefelregen über diesen Lügensumpf!“
■ Thomas Manns Radiosendungen nach Deutschland 1940-1945
Horst Meier
Als die British Broadcasting Corporation im Herbst 1940 Thomas Mann anbot, über den Londoner Sender monatlich kurze Ansprachen zu halten, zögerte der Exilierte nicht, an seine Landsleute im „großdeutschen Reich“ das Wort zu richten. Schon im Oktober 1940 ging die erste Rede über den Sender, in der Thomas Mann von der Hoffnung sprach, „den Wall zu durchdringen, den die Tyrannei um euch errichtet hat“. Im Laufe der Zeit sind etwa 60 Rundfunkbotschaften entstanden, die erstmals 1942 und als erweiterte Auflage 1945 vom Bermann-Fischer-Verlag in Stockholm veröffentlicht wurden. Einzelne Ansprachen wurden in amerikanischen, russischen, englischen, kanadischen und - nach dem Krieg - in deutschen Zeitungen gedruckt, verschiedene als Flugblätter von der „Royal Air Force“ über dem Reich abgeworfen. Die BBC hatte im September 1938 ihren deutschsprachigen Dienst eingerichtet und seitdem ausgebaut. In England schätzte man die wachsende Zahl der täglichen Hörer im August 1944 auf immerhin zehn bis fünfzehn Millionen. I.
Thomas Mann sprach seine Hörer persönlich an; er berichtete und warnte, fragte einfühlsam und beschwor pathetisch, ermutigte und drohte zuweilen auch. Vielleicht hat dies seinen Sendungen jene unverwechselbare Ausstrahlung gegeben, die noch heute beim bloßen Lesen der Texte zu spüren ist.
Immer wieder ist vom aktuellen Kriegsgeschehen die Rede, so etwa vom Kriegseintritt der USA und dem anfänglichen Siegeszug der Wehrmacht. Eindringlich warnt er seine Hörer vor dem Irrglauben, es gelte bloß, „eiserne Tatsachen“ zu schaffen. Die Welt werde „den Endsieg des Bösen“ nicht anerkennen, prophezeit Thomas Mann und sieht im Frühjahr 1941 die „Verzweiflungsrevolte des Menschentums gegen das Deutschtum“ heraufziehen: „Solange Hitler und sein Brandstifterregime bestehen, werdet ihr Deutschen keinen Frieden haben, nie, unter keinen Umständen.“
Jenseits der Tagespolitik bewegen den Exilierten Fragen, die den Grund seiner Existenz als deutscher Schriftsteller berühren. Unverkennbar wird dieses Motiv in vielen Reden angestimmt. Gerade Thomas Mann steht vor der quälenden und sein Deutschtum erschütternden Frage, warum es soweit kommen konnte, daß das Deutschland Goethes, die Kulturnation, der er sich verpflichtet fühlt, Europa so tief in die „Barbarei“ hinabstürzen konnte.
Als Zeitdokumente des „Leidens an Deutschland“ leben die Radioreden vor allem von kontrastreichen Stimmungsbildern, die uns die Einfühlung in die damalige Lage Deutschlands, so, wie sie der exilierte Schriftsteller sah, ermöglichen. Daneben finden sich Überlegungen, die noch heute politischen Zündstoff bergen.
In der Ansprache vom August 1941 heißt es: „Ich gebe zu, daß, was man Nationalsozialismus nennt, lange Wurzeln im deutschen Leben hat... Zusammen mit Deutschlands hervorragender Angepaßtheit an das technische Zeitalter bilden sie heute eine Sprengmischung, die die ganze Zivilisation bedroht.“
Thomas Mann weiß, wovon er spricht, hatte er doch 1918 in seinen autobiographisch geprägten Betrachtungen eines Unpolitischen das deutsche Wesen gegen den rationalistisch -aufgeklärten Geist des Westens verteidigt und mit der Idee einer Demokratie abgerechnet, die der gebildeten deutschen Kultur - wie Politik überhaupt - fremd sei. Doch dies war vor seiner „demokratischen Konversion“ des Jahres 1922. Jetzt, im Krieg, spricht und agitiert der deutsche Weltbürger und Republikaner, der Sozialist aus Menschenfreundlichkeit.
Obgleich er die Kontinuitätsprobleme der deutschen Geschichte sehr ernst nimmt, prognostiziert Thomas Mann dem auf tausend Jahre angelegten Reich den baldigen Untergang. Er traut der Kulturnation „den längeren historischen Atem“ zu. Seine Hoffnung „beruht auf der Tatsache, daß der Nationalsozialismus, diese politische Erfüllung von Ideen, die seit mindestens anderthalb Jahrhunderten im deutschen Volk und in der deutschen Intelligenz rumoren, etwas Äußerstes und physisch und moralisch vollkommen Extravagantes sind, ein Experiment letzterreichbarer Unmoral und Brutalität, das sich nicht übersteigern und nicht wiederholen läßt... Schlägt dieses Experiment fehl..., so wird der deutsche Nationalismus, der gefährlichste, den es je gab, weil er technisierte Mystik ist, wirklich ausgebrannt sein...“
„Technisierte Mystik“ - die eigentümlich rückwärtsgewandte Modernität des Nationalsozialismus hat Thomas Mann im Januar 1942, als er über die Ermordung holländischer Juden mit Giftgas berichtete, auf einen noch prägnanteren Begriff gebracht - den der revolutionären Rückschlägigkeit. Er betont, daß man den „Geist“ des Nazismus nicht verstünde, „wenn man die moralische Bereitschaft zu solchen Taten nicht als eine revolutionäre Errungenschaft begreift. In dieser rückfälligen - um Jahrtausende rückfälligen - Bereitschaft besteht die nationalsozialistische Revolution...“
Wenn auch der Name „Auschwitz“ erst in der Rede vom 14.Januar 1945 fällt, kurz bevor die wenigen Überlebenden von der Roten Armee befreit werden, hat Thomas Mann doch bereits in seiner Sendung vom September 1942 - der einzigen, die sich ausschließlich damit befaßt - eindringlich eine Vorahnung von der singulären historischen Bedeutung dieses Völkermordes vermittelt und unter Hinweis auf die Agonie des Warschauer Ghettos gewarnt, es sei dem Regime „irrsinniger Ernst mit der Ausrottung der Juden“. II.
Thomas Manns Rechtfertigung des alliierten Luftkrieges gegen die deutschen Städte gehört zu den provokantesten Passagen seiner Radioreden. Seit Mai 1943 arbeitet er an seinem letzten großen Roman, dem Doktor Faustus, dessen fiktiven Chronisten er eng mit dem Schicksal seiner deutschen Hörer verband. So notierte Serenus Zeitblom im Deutschland dieser Jahre nicht nur Erhellendes über „machtgeschützte Innerlichkeit“, sondern erlebt auch den Untergang der deutschen Städte. In Thomas Manns Bericht zur Entstehung des Doktor Faustus findet sich über das Frühjahr 1944 folgende Notiz: „Bei Schneetreiben und Dunkelheit suchte ich in unserem Hotel am See das laufende Kapitel zu fördern und sorgte nebenher für eine neue deutsche Sendung - es war die über die Luftbombardements und über die damit gestellte Gewissensfrage.“
Tatsächlich klingt überall dort, wo Thomas Mann auf den Luftkrieg zu sprechen kommt, diese Frage der politischen Moral an. Aber schon in der Sondersendung vom April 1942, die dem ersten Jahrestag der Zerstörung Coventrys durch die Göringsche Luftwaffe galt, hatte Thomas Mann keinen Zweifel daran gelassen, wie die „Gewissensfrage“ zu entscheiden sei. Da konnte ihn, der es gewohnt war, die Welt von seiner Person und seinem Werk aus zu deuten, selbst die von schwedischen Zeitungen gemeldete Zertrümmerung des „Buddenbrook-Hauses“ nicht schrecken, wie er seinen Hörern versichert: „Beim jüngsten brischen Raid über Hitlerland hat das alte Lübeck zu leiden gehabt. Das geht mich an, es ist meine Vaterstadt... Aber ich denke an Coventry - und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, daß alles bezahlt werden muß. Es wird mehr Lübecker geben, mehr Hamburger, Kölner und Düsseldorfer, die dagegen auch nichts einzuwenden haben und, wenn sie das Dröhnen der RAF über ihren Köpfen hören, ihr guten Erfolg wünschen.“
Noch im März 1944, als eine Stadt nach der anderen in Schutt und Asche gebombt worden war, hielt Thomas Mann an seiner Position kompromißlos fest: „Was sich in Köln, Hamburg, Berlin und anderwärts abgespielt hat, ist grauenerregend, und es hilft wenig, sich zu sagen, daß man der äußersten Brutalität eben nur mit äußerster Brutalität begegnen kann; daß hier Nemesis waltet und es sich kaum um ein Tun, vielmehr um ein rächendes Geschehen handelt. Gewiß, das Kulturgesetz der Nazis ist verächtlich, ihre Propaganda gegen die 'Lufthunnen‘ totgeboren, moralisch ohnmächtig. Aber es handelt sich um das Gewissen der Freiheit, um die Tragik, daß sie tun muß, was ihr fremd und unnatürlich ist, was sie ... nicht tun dürfte und dennoch durch die Proklamierung der Gewalt auf Erden zu tun gezwungen ist. Das Dilemma ist schwer, beunruhigend und belastend. - Und dann ist es doch wieder auf einmal kein Dilemma mehr. Ein einziges Wort, eine Nachricht aus Naziland hebt es auf, löst die Frage, bringt jeden Zweifel zum Schweigen, führt zu Gemüte, daß es eine letzte und auf tausend Jahre teuflisch freche, eine unverbesserliche und unerträgliche, mit dem Menschendasein unvereinbare Infamie der Lüge gibt, die nach dem Schwefelregen nur so schreit, der nur mit dem Schwefelregen zu helfen, auf die nur eine Antwort möglich ist: Vernichtung, Bomben... Zweitausend Lufthunnen täglich über diesen Lügensumpf - es gibt nichts anderes. Diese unmäßige Niedertracht, dieser revoltierende, den Magen umkehrende Betrug, ...dies überdimensionierte Lustmördertum an der Wahrheit muß vernichtet, muß ausgelöscht werden, um jeden Preis und mit allen Mitteln...“
Es ist bemerkenswert, mit welch gnadenloser Härte hier der totale Luftkrieg gerechtfertigt wird. Und „Schwefelregen“? Man braucht nicht erst daran zu denken, daß die englischen Planungen zur Zerstörung Hamburgs, die dann im Juli 1943 ganz unmetaphorisch durchgeführt worden sind, unter dem Namen „Operation Gomorrha“ liefen, um von dieser Vergeltungsrhetorik irritiert zu sein. Gewiß, oftmals gab diese Diktion Thomas Manns antinazistischen Radiobotschaften erst ihre volle moralische Durchschlagskraft. Dort etwa, wo er nach Roosevelts Tod „mit der Donnerstimme des Alten Testaments“, wie Jean Amery diese einmal charakterisierte, jene direkt an Hitler gerichtete Frage in den Äther rief: „Wie kommst du dazu, noch zu leben?“
Hier aber, in der Frage des Luftkrieges, wirkt diese Rhetorik kalt und abstrakt. Wie erst mag sie auf die damaligen Hörer gewirkt haben? Zur Rechtfertigung des „Schwefelregens“ hat sich der große Moralist auf die schlichte, so unwiderlegbare Tatsache zurückgezogen, die Menschheit müsse im Kampf gegen das Reich des Bösen unweigerlich schuldig werden. Dabei hat er sich die naheliegende militärpolitische Frage nicht gestellt: Ob nämlich der „zur Befreiung Europas unentbehrliche Luftkrieg“ wirklich nur mit jenen „unvermeidlichen Grausamkeiten“ geführt wurde, von denen er selbst einmal sprach. Die gezielte Bombardierung von Wohngebieten bleibt auch im Kampf gegen das zum „Feind der Menschheit“ gewordene nationalsozialistische Deutschland eine Schreckenstat, deren uneingeschränkte Rechtfertigung heute noch befremdet. III.
Thomas Mannn hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß das Naziregime vom deutschen Volk selbst in einer „demokratischen Revolution“ beseitigt werden müsse. Hierauf, auf diese Selbstbefreiung, diese bereinigende und abrechnende, historisch überfällige Tat setzt er all seine schwankende Hoffnung. Im August 1941 appelliert er an seine Hörer: „Verweigert eure Hände und tut nicht mehr mit! Es wird für die Zukunft ein ungeheurer Unterschied sein, ob ihr Deutsche selbst den Mann des Schreckens, diesen Hitler, beseitigt oder ob es von außen geschehen muß.“
Es gereicht dem Mahner zur Ehre, daß er bis zum Ende die moralische Notwendigkeit eines Aufstandes gepredigt hat, an dessen politische Möglichkeit er immer weniger glaubte. So lesen wir im Vorwort zur Erstauflage von 1942, wo er auf eine „Bierkellerrede“ Hitlers zu sprechen kommt, das deutsche Volk lasse sich zu keiner Revolution gegen seinen Führer aufwiegeln: „Vielleicht hat er recht mit seiner Zuversicht, daß das deutsche Volk 'nicht so sei‘ - er war immer am allerwiderwärtigsten dort, wo er recht hatte. Auch heißt ein Volk zur Erhebung aufrufen noch nicht, an seine Fähigkeit dazu im tiefsten Herzen glauben.“
„Natürlich gibt es so etwas wie die 'knechtseligkeit der deutschen'“, notiert Bertolt Brecht, vermutlich mit einem Seitenblick auf Thomas Mann, unter dem 29.Juli 1943 in seinem Arbeitsjournal und setzt hinzu: „trotzdem ist das rätsel des deutschen durchhaltens ... dem nicht-dialektiker kaum zu erklären.“ Der Trost der Dialektik, den sich manche seiner linken Leidensgenossen im Exil eine Weile spenden mochten, blieb Thomas Mann von Anbeginn versagt. Er, der 1933 „eine enthusiastische funkensprühende Revolution“ am Werke sah, entzündet an „militantem Knechtsinn“, setzt schwerlich Hoffnungen auf einen proletarischen Aufstand. Während Brecht geprägt bleibt durch sozialrevolutionäre Vorstellungen vom Krieg der Klassen und noch in der Volksgemeinschaft des Dritten Reiches ein Oben und Unten sieht, ahnt Thomas Mann wiederum genug von der Abgründigkeit des „deutschen Wesens“, um seinen Antifaschismus auch im Widerspruch gegen das deutsche Volk durchzuhalten - und nicht nur gegen dessen Nazi-Unterdrücker.
Als endlich die Stunde der Befreiung naht, kündet davon nicht das Trompetensignal des „Fidelio“, sondern klirrendes Gejohl amerikanischer Panzerketten, das Fauchen russischer „Stalinorgeln“. Der „langersehnte Zusammenbruch des 'Dritten Reiches'“ hat Thomas Manns „Stimmung - so paradox dies im ersten Augenblick scheinen mag - eher auf einem Tiefpunkt anlangen lassen“, wie Marcel Reich-Ranicki in seiner Würdigung der Tagebücher aus den Jahren 1944-1946 anmerkte. Am 3.April 1945 notiert Thomas Mann: „Das deutsche Volk - bittere Enttäuschung.“
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