Chinas Zukunft ist ganz schwarz

■ 100 Tage nach dem Massaker steht das Land vor dem Abgrund

In nur wenigen Stunden wurde die Hoffnung einer ganzen Generation auf Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung zunichte gemacht - die Zukunft eines Milliardenvolkes begraben. Genau 100 Tage ist es heute her, daß eine Handvoll alter Herren in der Pekinger Parteizentrale die friedlichen Demonstrationen auf dem Tiananmen mit Panzern niederwalzen ließen. Vor die Frage gestellt, sich für die Zukunft des Landes der Mitte oder ihre ureigene und die der chinesischen KP zu entscheiden, entschloß sich das traurige Häuflein von alten Männern - die meisten über 80 - zur Massaker-Lösung.

Etwa 1.300 Menschen verloren in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni in Pekings Hauptstadt ihr Leben, weil sie für ein demokratisches China auf die Straße gingen. Seitdem regiert der Terror in China. Todesurteile gegen Demonstranten und Dissidenten sind noch immer an der Tagesordnung, auch wenn die Verbrechen der Pekinger Amokläufer gegen das eigene Volk längst aus den Schlagzeilen verschwunden sind. Zwar hat die Clique der neuzeitlichen Warlords um Deng Xiaoping und Li Peng damit die Grabesruhe hergestellt, die sie angeblich brauchen, um die Wirtschaftsreform und Westöffnung weiterführen zu können. Doch in Wahrheit steuert der Zug der chinesischen Wirtschaft jetzt erst mit Volldampf auf den Abgrund zu.

Keine einzige der Ursachen, die im Frühsommer zu dem sozialen und politischen Aufstand führte, ist beseitigt worden. Im Gegenteil: Wenige Tage vor dem 40. Jahrestag der Volksrepublik China am ersten Oktober scheinen Kommunistische Partei und das Volk so unvereinbare Größen wie selten zuvor zu sein. Die Führung hat den Marsch in die Vergangenheit angeordnet, doch noch weiß niemand, wo der Zug zum Stehen kommt. In den sechziger Jahren, als die unsägliche Kulturrevolution durch China fegte? Oder in den Fünfzigern, als nach Ansicht der Gerontokraten, die das Land heute in Schach halten, China seine Goldenen Tage erlebte.

Ohnehin ist diese Frage unerheblich. Denn das chinesische Volk ist auf diesen Zug nur widerwillig aufgesprungen. Ein Milliardenvolk scheint sich seit 100 Tagen seiner Führungsschicht zu verweigern. An die finstere staatliche Propaganda, die dem Ausland die Schuld für das Massaker und den Niedergang der Wirtschaft in die Schuhe schieben will, glaubt ohnehin niemand. Zumindest die städtische Arbeiterschaft und die Intelligenz verweigert sich, mit Dengs Terrorregime zusammenzuarbeiten.

Dennoch starren im Jahr der Schlange die Chinesen mehr denn je auf das Karnickel, den 85jährigen Deng Xiaoping. Hoffen zwar die meisten, daß er bald sterben wird, so wird danach das Land erst recht von der schleichenden Agonie des Terrors zur Katastrophe befördert. Denn was in den letzten Wochen in den Führungsetagen der Pekinger Macht passierte, war nur der Versuch, die Nachfolge-Frage Deng vorab zu klären. Daß die streitenden Fraktionen in der KPCh beim Ableben des kleinen Diktators zum offenen Kampf übergehen, schließen viele China -Kenner nicht mehr aus.

Was der Westen dabei unternehmen kann, ist recht wenig. Daß Wirtschaftssanktionen wenig greifen, haben die letzten 100 Tage bewiesen. Ohnehin hat sich gezeigt, daß dies eine Gratwanderung ist, die auf keinen Fall dazu führen darf, daß chinesische Intellektuelle und Reformkräfte damit gestraft werden. Wichtiger muß sein, das Massaker vom Tiananmen nicht so schnell zu vergessen. Würden jetzt die chinesischen Studenten in der Bundesrepublik und in Europa schon wieder nach Hause geschickt, bedeutete dies für sie Verfolgung und Tod. Es hieße aber auch, die Kräfte auseinanderzureißen, die sich in den nächsten Tagen zusammenfinden, um Chinas erste demokratische Opposition zu gründen. Wenn auch vorerst nur im Ausland.

Jürgen Kremb