Boat people zwischen Cholera und Rausschmiß

Die Zahl der Boat people wird sich bis Ende des Jahres verdreifacht haben / Morddrohung an UN-Flüchtlingskommission, falls nicht binnen einer Woche Repatriierung einsetzt / 4.400 Boat people mußten wegen Cholera-Epidemie verlegt werden  ■  Aus Hongkong Ingo Guenther

Mitglieder der UN-Flüchtlingskommission und ausländische Regierungsbeamte in Hongkong sind mit Mord bedroht worden, falls nicht binnen einer Woche mit der „Rückführung der Boat people“ nach Vietnam begonnen werde. Die bisher unbekannte Organisation „Save Hong Kong Big League“ hat in einem Brief an eine chinesisch-sprachige Hongkonger Zeitung erklärt, daß sie jede Woche ein Mitglied der Flüchtlingskommission oder einen Regierungsbeamten töten werde, bis die ersten vietnamesischen Flüchtlinge „repatriiert“ werden. Die UN -Flüchtlingskommission hat es bisher abgelehnt, die Boat people gegen ihren Willen nach Vietnam zu transportieren. Die Drohung gegen die ausländischen Regierungsbeamten, von denen die meisten britische Staatsbürger sind, soll vermutlich Druck auf London ausüben, Hongkong mit dem Flüchtlingsproblem nicht alleine zu lassen.

An Flüchtlinge müßte sich die Hongkonger Bevölkerung eigentlich mittlerweile gewöhnt haben. Denn dieser Fleck Erde am und im Südchinesischen Meer ist nicht nur in Ermangelung einer aktiven Familienplanung, wie sie im kommunistischen Mutterland Gesetz ist, zu einem der dichtbesiedeltsten Gebiete der Welt geworden. Flüchtlinge kamen allerdings vorwiegend aus dem chinesischen Mutterland, und ihre Zahl wurde bald kontrolliert: auf 75 pro Tag hatte man sich mit Beijing geeinigt, der Rest wird zurückgeschickt oder inhaftiert. Doch seit Beginn dieses Jahres erreichen bis zu 800 Vietnamesen täglich die britisch-kolonialen Gewässer. Von zunehmenden Piratenüberfällen im Golf von Thailand abgeschreckt, nähern sich immer mehr Vietnamesen über Land per Eisenbahn durch China, von wo sie zu einer kurzen, relativ harmlosen Seereise nach Hongkong starten.

54.000 Boat people

Bisher beherbergt die Kronkolonie mehr als 54.000 Boat people, und bis Jahresende wird die Zahl, bei gleichbleibender Rate von durchschnittlich 150 pro Tag, auf über 70.000 anwachsen. Jene 15.000, die vor dem 16.Juni 1988 angekommen waren, genießen noch Flüchtlingsstatus. Alle danach Ankommenden, so wurde in Hongkong entschieden, sollten in einem Verfahren beweisen, daß sie auch tatsächlich (politische) Flüchtlinge sind.

Fast 11.000, die in den darauffolgenden neun Monaten bis März '89 eingetroffen waren, warten in sogenannten Detention Centers (Internierungslager, die von Gefängniswärtern bewacht werden) auf ihr Verfahren. Noch nicht einmal ein Zehntel war bis März unter die Lupe genommen worden, und weniger als zehn Prozent der Begutachteten erhielten den begehrten Flüchtlingsstatus: ganze 93.

Die Anerkannten werden in „Open Camps“ (Offene Lager) untergebracht, dürfen arbeiten, zur Schule gehen und „am sozialen Leben“ teilnehmen, bis sie von einem der westlichen Länder die endgültige Aufnahmeerlaubnis bekommen. Diese Nationen aber tun sich zunehmend schwerer, insbesondere die USA zieht sich allmählich aus der Verantwortung: Während es in den ersten Jahren nach dem Fall Saigons vor allem Südvietnamesen mit einem 90prozentigen Anteil ethnischer Chinesen waren, scheint sich das Verhältnis nun umgekehrt zu haben: Die meisten kommen aus dem Norden und haben womöglich schon auf amerikanische Soldaten geschossen. In einem aufwendigen sogenannten „Double Screening“ werden die ehemaligen Kommunisten ausgesiebt und nur die qualifizierten Arbeitskräfte akzeptiert.

Auf zwölf Lager sind die Flüchtlinge verteilt und müssen zum Teil unter abenteuerlichen Umständen auf ein Dach über dem Kopf oder festen Boden unter den Füßen warten. Am Sonntag wurden 4.400 Boat people von der Insel Tai Ah Chau, wo vor zehn Tagen eine Cholera-Epidemie ausgebrochen war, in das Internierungslager Hei Ling Chau auf einer benachbarten Insel verlegt. Lokalzeitungen in Hongkong berichteten am Wochenende, daß inzwischen 21 Flüchtlinge an Cholera erkrankt sind. Darüber hinaus seien 40 Fälle von Ruhr auf Tai Ah Chau aufgetreten.

Die Hongkonger beklagen sich derweil bitter über die „frechen Vietnamesen“, die nach Belieben sogar die geschlossenen Lager verlassen würden, um die Nachbarschaft unsicher zu machen. Die Halbwüchsigen seien gewalttätig, die Kinder würden rauchen, und den vietnamesischen Frauen wird vorgeworfen, sie gingen „illegalen Gelderwerbs auf den Straßen“ nach. Etliche seien nicht nur vor Armut und politischer Verfolgung geflohen, sondern auch, um sich dem Gesetz zu entziehen: Diebe und Mörder seien unter ihnen. Kein Wunder, folgert ein Leserbriefschreiber in der 'South China Morning Post‘, daß die Regierung in Hanoi sie nicht zurückhaben will. Im Sek Kong District, wo 7.000 in Zelten auf einem ehemaligen Rollfeld der Air Force hausen, hat sich eine Bürgerwehr gebildet, nachdem bis zu 200 Boat people täglich aus dem Lager aus- und ins Lager eingebrochen waren.

Regelmäßig kommt es zu Konfrontationen zwischen Polizei und Vietnamesen, die Bündel für ihre Verwandten über die Zäune in die Lager werfen. Auf die Idee, eine Art Briefkasten einzurichten, kam die Flüchtlingsadministration erst vor zwei Wochen. Ein im Bau befindliches Lager auf High Island liegt im Naturschutzgebiet Sai Kung. Tagelang blockierten die anliegenden Bewohner die Baustellenzufahrt, bis sie von der Polizei abtransportiert wurden, unter dem Vorwand, die Vietnamesen würden das naheliegende Süßwasserreservoir verpesten. Ein Radiokommentar vermutet gar hinter dem Exodus aus Vietnam eine wohlorchestrierte Aktion der bankrotten vietnamesischen Regierung, die nur darauf aus sei, einen Batzen Geld für die „Repatriierung“ der Flüchtlinge zu kassieren, denn die Forderung nach „Forced Repatriation“ werde nur dann von Hanoi akzeptiert, wenn sie mit substantieller finanzieller Wiedereingliederungshilfe gekoppelt ist.

Als unlängst 400 Boat people innerhalb von Kowloon verlegt wurden, wurde aus Angst vor Ausschreitungen die ganze Straße abgesperrt, damit der Transport in 20 Gefängniswagen nicht anhalten mußte. Die zaghaft aus den vergitterten Wagen winkenden Frauen und Kinder ernteten nur stoisch kalte Gesichter der Hongkong-Chinesen.

Streit gibt es nicht nur um, sondern auch unter den Vietnamesen. Süd- und Nordvietnamesen müssen in verschiedenen Lagern untergebracht oder, wie in Sham Shui Po, wenigstens durch einen Stacheldrahtzaun getrennt werden. Sonst kommt es zu Schlägereien zwischen rivalisierenden Gruppen. Vor kurzem schlugen sich 19 Vietnamesen aus Haiphong und Quang Ning krankenhausreif.

Seit im Dezember 1988 ein UN-vermitteltes Einverständnis zwischen der Regierung in Hanoi und der Verwaltung in Hongkong in Sachen freiwillige Rückkehr erziehlt wurde, hofft man sich des Flüchtlingsphänomens auf elegantere Weise entledigen zu können: Das Programm kommt aber erst ganz langsam in Schwung: Seit März '89 machten erst 264 von dem Angebot Gebrauch. Rechnerisch sind die freiwilligen Rückkehrer zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber der Propagandawert ist nicht zu unterschätzen. Über die 121, die vergangenen Monat eine Dragon-Air-Maschine in Richtung Hanoi bestiegen, mokierte sich die lokale Presse: Frauen in modischer Kleidung und Männer, dicke Radiorekorder schwingend, hätten mehr wie „reiche Touristen als wie Flüchtlinge“ ausgesehen. UNHCR offeriert jedem freiwilligem Rückkehrer 150 Dollar Bargeld als Wiedereingliederungshilfe. 150 Dollar entsprechen etwa einem Jahresgehalt in Vietnam. Kritiker befürchten, daß diese Praxis vietnamesische „Touristen“ anlocken wird, die zum Shopping mal kurz übers Meer nach Hongkong kommen.