Vive la difference

■ Kultivierte Vorurteile über nationale Besonderheiten

Vorurteile sind altomodisch. Wer trägt denn noch so etwas? Skeptisch sind wir, wenn schon nicht aufgeklärt, dann doch wenigstens schlau. Nationale Besonderheiten - wer glaubt an so etwas? Nach über einer Woche mit täglich vier oder fünf Filmen merke ich, daß meine Vorurteile funktionieren, als wären sie nie einer Kritik unterzogen worden. Ich merke es nicht, weil ein Film mich auf sie aufmerksam gemacht hätte, weil einer der Festivalbeiträge mich in die Mangel und auseinandergenommen hätte. Nein, ich merke es an meinen Reaktionen. Annehmbar finde ich Filme, die meine Vorurteile bestätigen. Da ist Peter Halls Wettbewerbsbeitrag She's been away, Kei Kumais löwenverdächtiger The Death of a Tea Master und Eric Rochants Beitrag zur „Woche der Kritik“: Un Monde sans Pite. Jeder dieser Filme erfüllt prächtig alles, was ich über die Herkunftsländer an Vorurteilen kultiviere. Rochant kommt aus Paris, hat eine Pariser Geschichte gedreht: Ein junger Nichtsnutz - wir haben vor zwanzig Jahren Belmondo in dieser Rolle gesehen strolcht durch die Straßen der Hauptstadt des 19.Jahrhunderts, blickt den Frauen nach, erliegt dem Charme einer jeden für ein paar Rendezvous, dann lockt die Aussicht auf neue Anbändeleien. Rochants Hauptdarsteller Henry Giradot - nicht verwandt, nicht verschwägert - führt ihn hinreißend vor, den Charme des verführten Verführers. Der Film ist ein großer Erfolg - mit Recht. Aber, wie ein Kollege bei der Pressekonferenz korrekt fragte, „wird's euch nicht langsam langweilig? Könnt ihr wirklich nichts anderes?“

Kei Kumai hat einen Bestseller von Inoue verfilmt: die Geschichte eines Meisters der Teezeremonie, der Harakiri begeht, um seine Kunst zu vollenden. Neunzig Prozent des Filmes sind Dialoge zwischen verschiedenen Meistern der Teezeremonie. Die Herren sitzen in ihren großen Kimonos und bellen sich an, Knurrhähne. Allen voran natürlich Toshiro Mifune. Ich brauchte eine halbe Stunde, um mich daran zu gewöhnen, dann war ich dem Film auf den Leim gegangen. Die großen Reden über die Kunst, über das Gegengewicht, das sie darstellt zur Gewalt der einander bekriegenden Feudalherren und ihre enge Bindung an diese, die Vorstellung, daß sie mit diesen überflüssig werden würde in einer wirklich befriedeten Welt. Es war faszinierend, das aus dem Japan des 17.Jahrhunderts zu hören. Ein Japan, wie es japanischer nicht denkbar ist: Die Kunst der Teezeremnonie, die nicht gipfelt in einem Produkt. Diese reglosen Männer, bei denen hinter jedem Satz die blutige Gewalt eines ganzen Ritterheeres zu stehen scheint. Eine Welt ohne Frauen.

Peter Halls Film ist die Geschichte einer Frau, die sechzig Jahre lang in einer Irrenanstalt eingeschlossen war. Ihre Eltern hatten sie reingesteckt, weil das pubertierende Mädchen gar zu eigene Ideen vom Leben und von der Liebe hatte. Ihr Neffe nimmt sie jetzt zu sich ins Haus. Ein extrem britischer Blick auf die britische Gegenwart. Voller Selbstironie und mit dem Abstand zu sich, wie ihn nur das Gefühl absoluter Überlegenheit herstellen kann. Immer wieder umwerfend amüsant, aber natürlich auch die Erflüllung des Klischees vom british humour.

Vielleicht sind die schlechteren Filme, die also, die nationale Tugenden nicht ausschlachten für die Produktion der eigenen Werke, doch die besseren.

Arno Widmann