Rumpelfrei rotierend

■ Bruckners Neunte mit Giulini: das Karajan-Gedenkkonzert am vergangenen Sonntag beweist, daß die Berliner Philharmoniker dringend einen Dirigenten brauchen

Berlin (taz) - Bruckners Neunte ist dem lieben Gott gewidmet, findet aber nicht mehr hin. Sie ist auf einen nicht zu kittenden Riß gestellt, und man könnte denken, daß Bruckner darum kein Finale für die Sinfonie geschrieben hat - nicht einfach, weil er über der Komposition gestorben ist. Der Riß öffnet sich gleich zu Anfang, nach 18 bangen D -Moll-Takten: Der Grundton spaltet sich in des und es, ein Ereignis, das durch keine der von Bruckner mit solcher Hingabe studierten und befolgten Harmonielehren zu erklären ist. Bruckners Neunte ist die gellende Alarmsirene zu dieser Katastrophe. Ein Glaubensbekenntnis ist sie nicht - das war in Bruckners Sinfonien den zwanghaft optimistischen Finali vorbehalten -, sondern eines der Zerknirschung.

Aber keine Angst, die Berliner Philharmoniker und Carlo Maria Giulini ficht das als echte Spitzenprofis des Musikbetriebs nicht an. Sie haben das Stück eben drauf. Wozu noch proben? Giulini - ein stocksteifer alter Mann - stellt sich hin, beugt sich vor, und schon geht's los, ein bißchen tattrig zunächst, aber dann finden sie ihr Tempo, die bekannte, rumpelfrei rotierende Reproduktionsmaschine.

Das ist High-Fidelity! Noch auf die kreischendste Dissonanz setzt sie ein weiches Glanzlicht, tiefste Schründe überspielt sie ohne die geringste Gleichlaufschwankung. Das tote musikalische Material, das panisch durch Sequenzen jagt und sich immer wieder unauflöslich verwirrt - High-Fidelity macht eine Hymne draus. Die einsamen Einwürfe des Horns oder der Oboe, die im Wortsinn daneben sind - musikalischer Zierat. Der siebentönige Fortefortissimo-Mißklang, das zusammengestauchte Blech des Adagio-Endes - prachtvoll: ein Farbenreigen, Regenbogen, Kathedralenfenster. Und dann der kleinlaute Abgesang, Bruckners allerletzte Worte, in E-Dur, statt D-Dur, wie es sich für das Ende einer D-Moll-Sinfonie eigentlich gehören würde - das Stück hört nicht auf, aber die Philharmoniker und Carlo Maria Giulini sind längst fertig damit.

Das war ein wahrhaft würdiges Gedenkkonzert für Herbert von Karajan. Giulini hat noch einmal vorgeführt, was Karajan aus den Philharmonikern gemacht hat, ein High-Tech-Instrument, das die abgründigste und schwierigste Musik im Nu wieder schön scheinen läßt. Wird sich das unter Karajans Nachfolger, Barenboim oder Levine, Muti, Mehta oder Maazel ändern? Kaum. Die dienen alle derselben Industrie und demselben leerlaufenden Konzertbetrieb. Die Philharmoniker bräuchten einen denkenden Diktator, der sie zwingt, Musik zu machen und auch das 20. Jahrhundert nicht scheut - unter Karajan haben die Philharmoniker in dreißig Jahren ganze 16 Uraufführungen zustande gebracht. Aber so einen würde sich keine Musikbeamtenrepublik je wählen.

Thierry Chervel