Trabi frei nach Westen

■ Turbulenter Aufbruch am Plattensee / Jubel in Ungarn, Verbitterung in Ost-Berlin

Jubelnd und mit knallenden Sektkorken setzte sich in der Nacht von Sonntag auf Montag der seit langem erwartete Treck der DDR-Ausreiser von Ungarn in Richtung BRD in Bewegung. Während die BRD-Grenzer, Wagenheber bei Fuß, auf die Trabi -Kolonnen warten, geißelt die SED den Verrat der Genossen in Budapest.

„Das ist ja wie Weihnachten und Ostern auf einen Tag“, jubelt ein Mann in mittleren Jahren und stürzt zu seinem fahrbaren Untersatz. Auf Motorrädern, in Taxis, mit dem Rucksack und zu Fuß stürmten am Sonntag abend, schon eine knappe Stunde, nachdem die ungarische Regierung grünes Licht für die Ausreise gen Westen gegeben hatte, die ersten DDRler aus dem Budapester Lager Szugliget in Richtung Westen. Ganze Trabi-Kolonnen brachen knatternd auf.

Unbeschreiblicher Jubel hatte um 19.18 Uhr die Erklärung des ungarischen Außenministers Gyula Horn begleitet. Dichtgedrängt verfolgten die DDRler das Statement, das auf einem flimmernden Monitor ins Lager übertragen wurde. Die anfangs angespannten Gesichter der Menschen lösten sich, als Horn sagte: „Die Bürger der DDR können das Land verlassen!“ Die ungarische Regierung habe vorübergehend ein zwischenstaatliches Abkommen mit der DDR suspendiert und es damit den DDR-Bürgern, die nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen, möglich gemacht, in ein Land ihrer Wahl auszureisen. „Diese Maßnahme tritt am 11.September um null Uhr in Kraft.“ Lachen, Weinen, Fassungslosigkeit und Ratlosigkeit, ob auch alles, was Horn sagte und was vom Malteser-Hilfsdienst bruchstückhaft übersetzt wurde, wirklich wahr ist, mischten sich.

Die Klärung der Transportfrage, die tagelang Kopfzerbrechen bereitet hatte, war keine fünf Minuten später bekannt. Alles, was Räder hat, kann benutzt werden. Dies löste Gelächter bei denjenigen aus, die die letzte Woche damit verbracht hatten, sich stundenlang logistischen Planspielen hinzugeben. Auch die Paßfrage war anders geklärt als erwartet: Zur Ausreise der DDR-Paß, zur Einreise in Österreich der bundesdeutsche. Aber auch wer noch keine bundesdeutschen Papiere hat, darf durch. „Wir können also auch ein Donau-Dampfschiff nehmen“, lachte eine Frau.

Packen und Aufbruchstimmung, einige Sektkorken knallen. „Trink nicht soviel, wir müssen heute noch fahren“, ist der Spruch der Nacht. „Wir gehen jetzt noch tanken und dann nichts wie weg.“ Besonnenere mußten ihre Familien mahnen, den nächsten Vormittag abzuwarten und öffentliche Busse oder die Fahrzeuge der Hilfsdienste zu benutzen. Sie waren für gestern mittag um zwölf Uhr angekündigt worden. „Die fahren“, versicherte Einsatzleiter Wolfgang Wagner immer wieder, „bis die Lager leer sind.“

Auf der Straße vor der Kirche in Szugliget entbrannten blitzschnell die politischen Diskussionen seit Gründung der Lager. Die weitreichende Lösung der Ungarn, den Visa-Vertrag mit der DDR vorübergehend zu suspendieren, hatte für grenzenlose Überraschung gesorgt. Das müsse doch, meinten viele, der DDR-Führung endlich zu denken geben. Da müsse sich doch „zu Hause“ etwas verändern. Die meisten glaubten nicht, daß jetzt noch so einfach aus der DDR nach Ungarn gereist werden könne. Den gegenteiligen Beteuerungen, die DDR-Botschaftssekretär Grahmann noch am Vortag gegeben hatte, trauten sie nicht.

Am späteren Abend boten Budapester Taxifahrer kostenlose Passagen zur Grenze an, ungarische Privatautos fuhren vor und holten DDRler ab, Westdeutsche sammelten ihre Verwandten ein. Vor den Lagern leuchteten noch lange die Scheinwerfer der Fernsehteams. Drinnen trugen sich die Menschen reihenweise in die Omnibus-Listen ein: „Macht das heute einen Spaß, Schlange zu stehen“, rief einer und alle jubelten. Der Beifall klang auch immer wieder auf, wenn die Malteser Scilla von Boeselager und Wolfgang Wagner durch das Lager eilten, erklärten, beruhigten, versicherten, Hände schüttelten und sich verabschiedeten.

Im Lager Scilleberc am Rande Budapests hörten 2.500 Menschen die Nachricht durch einen Vertreter der bundesdeutschen Botschaft. Der Mann brach zu Beginn seiner Ansprache in Tränen aus. Die Menge umringte ihn applaudierend. Vor allen Toren standen bis spät in die Nacht ungarische BürgerInnen, weinten und freuten sich mit: „Gyula Horn ist gut!“ sagte eine alte Frau immer wieder.

Um 21.35 Uhr blieb der bundesdeutsche Botschafter Arnot fast im Verkehrschaos vor dem Lager stecken. Sein Dienstwagen mußte zwischen den Trabis durchgelotst werden. Er hatte vorher im Lager noch einmal die Ausreisemodalitäten erklärt. Hinter ihm her brennen Übermütige ein paar Kracher ab. Nebendran ärgern sich Jugendliche, fest an die Bierflasche geklammert, daß sie sich auf einen längeren Aufenthalt eingerichtet und ihre West-Mark gerade erst in Forint umgetauscht haben. Einer fragt beim Malteser -Hilfsdienst an, ob es erlaubt sei, daß er schnell noch seinen Trabi in Ungarn versteigere: „Im Westen krieg ick ja nischt mehr dafür!“ Von der Grenze werden kilometerlange Staus gemeldet.

Armin und Peter, die die taz in den letzten zwei Wochen mit ihren kritischen Bemerkungen über ihre Landsleute begleitet hatten, verzichten auch für diesmal auf jede Dienstleistung. Sie machen sich spontan per Anhalter auf den Weg. Vor dem Abschied hatte Armin noch laut darüber nachgedacht, ob sie wirklich Flüchtlinge seien: „Wenn ich bei dem Wort an die Dritte Welt denke, wird mir ganz anders.“

Heide Platen