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„Die Freude kann ich nicht teilen“

Friedrich Schorlemer, profilierter SED-Kritiker, rät seinen Mitbürgern, sich für Reformen einzusetzen  ■ I N T E R V I E W

taz: Herr Schorlemer, seit Mitternacht rollt der Exodus von DDR-Flüchtlingen über die ungarische Grenze Richtung BRD. haben Sie Verständnis für die, die jetzt „wegmachen“?

Schorlemer: Ich habe heute früh die Freudenschreie an der Grenze gehört und kann diese Freude überhaupt nicht teilen. Und auch nicht die Freude, die offenbar bei vielen Politikern in der BRD darüber herrscht. Es zählen die Tränen über die Menschen, die uns hier fehlen. Ich glaube, es wäre besser gewesen, wenn sich diese Menschen für Verbesserungen in unserem Land einsetzen würden, als daß sie die Reform für sich in einem anderen Land suchen. Die DDR hat den Rechtsrahmen für die Westreisen erweitert. Daher wäre es perspektivischer und verantwortungsvoller, wenn man die Wiener Schlußakte bei uns einfordern würde anstatt irgendwelche Lücken zu suchen. Das stört auch den Weg unseres Landes zu einem Rechtsstaat.

Ist das auch die Stimmung bei Ihren Freunden und Bekannten?

Bei meinen Freunden ja. Es gibt aber sehr viele Menschen, die ratlos und verständnislos reagieren.

Reißt dieser Massenexodus nicht riesige Lücken?

Natürlich. In diesem Land hat jeder ja eine Berufsausbildung erhalten, die meisten sind doch qualifizierte Leute. Viele haben sich hier auch einiges geschaffen. Es sind ja nicht die Armen, die in Ungarn sitzen, sondern tüchtige Leute.

Haben Sie die Befürchtung, die DDR könnte jetzt den Reiseverkehr nach Ungarn stoppen?

Nachdem die ungarische Regierung nun das Abkommen mit der DDR aufkündigt, glaube ich, daß die DDR keine andere Alternative mehr hat.

Das heißt, die DDR macht die Schotten dicht?

Wenn das so weitergeht, denke ich ja.

Glauben Sie, daß es sich die DDR-Führung in absehbarer Zeit leisten könnte, die Grenzen zur BRD aufzumachen?

Nein, das kann sie nicht. Die DDR kann ihre Reisepraxis nur ändern, wenn sie sich selbst grundlegend ändert. Das Grundgesetz macht es den DDR-Bürgern auch zu leicht. Das heißt auch, daß viele Menschen mit Konflikten - auch persönlichen - sich einfach ins andere Land aufmachen und dann unerreichbar sind. Die Traurigkeit vieler Freunde können Sie gar nicht nachempfinden. Ich spüre kein Mitempfinden von Offiziellen in der BRD mit denen, die hier bleiben und Menschen verloren haben.

Interview: Christian Semler

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