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„Man lebt nur einmal“

■ Erschöpft aber happy an der bayrischen Grenze

Die Strapazen der letzten Wochen standen vielen der DDRler ins Gesicht geschrieben, als sie gestern die österreichisch -bayrische Grenze erreichten. Ab drei Uhr nachts rollte der Strom aus Ungarn, am Montagnachmittag meldeten die Bundesgrenzer erste Entspannung. Flaute herrschte dagegen in den aufgebauten Zeltnotlagern. Der größte Teil reiste gleich zu Freunden oder Verwandten weiter. Die regionale bayrische Presse verspricht den Ankömmlingen Arbeitsplätze in Hülle und Fülle, der bayrische Sozialminister freut sich über die ausgebildeten Fachkräfte und „ihren guten Gesundheitszustand.“

Ein beiger Trabi nähert sich langsam dem Grenzübergang Suben bei Passau. Neugierig blickt das kleine dreijährige Mädchen auf dem Rücksitz ihren Eltern über die Schulter. „Super, wir können's noch gar nicht fassen, daß wir hier sind“, strahlt der 28jährige Frank Quester aus Dresden. Seit zweieinhalb Jahren wartet das junge Paar auf diesen Moment. Sonntag nachts um zehn Uhr war es dann endlich soweit. Der Diplomingenieur hat Verwandte in Nürnberg. „Paris-Dakar“, so der weltmännische Schriftzug auf einer weiß-roten Sportgeländemaschine hinter dem Wagen der jungen Familie. Zwei junge Männer sitzen drauf. Gepäck haben sie kaum dabei. „Es ist schön, wenn man raus ist.“ Zwölf Stunden hat der Elektriker aus Gotha mit seiner Maschine von Budapest bis in den Freistaat gebraucht, und hier will er auch bleiben. „Die Sprache ist mir sympathisch und außerdem gehört's nicht zu Deutschland“, lacht der ehemalige DDR-Bürger. Kopfzerbrechen bereitet ihm nur, daß seine Eltern und sein Bruder noch „drüben“ sind. Sie wissen noch nichts von seiner Flucht.

Daß ein „wesentlicher Teil“ der DDR-Flüchtlinge in Bayern bleiben wird, damit rechnet auch der bayerische Sozialminister Gebhard Glück. „Es ist überwiegend eine sehr junge Bevölkerung, hochmotiviert und erfreulicherweise auch in gutem Gesundheitszustand“, gibt der Minister stolz auf der mittäglichen Pressekonferenz in der Rot-Kreuz-Zentrale bekannt.

Mit zitternden Fingern liest Ulf Hohl jetzt das Formblatt mit der Überschrift: „Hinweise für Deutsche aus der DDR“. Der Grenzbeamte hat es ihm in die Hand gedrückt. „Herzlich Willkommen“, steht gleich zu Beginn des zweiseitigen Fomulars. Mit gelber Schrift ist das Lager „Hengersberg bei Deggendorf“ markiert. Ängstlich erkundigt er sich, wie lange er dort bleiben muß. „In der provisorischen Unterkunft werden sie sich nur ganz kurze Zeit aufhalten und alsbald in ein Bundesland weiterreisen“, wird ihm auf dem Papier versichert.

Hundert Meter vor der Raststätte Donautal steht ein älteres Ehepaar auf der Autobahnbrücke, um den vorbeifahrenden Trabis zuzuwinken. Doch die große Trabikolonne bleibt an diesem Vormittag noch aus. „Vom Flüchtlingsstrom kann man bisher noch nicht reden, ich würd's eher als lebhaften Rückreiseverkehr ohne Stau bezeichnen“, meint dann auch Franz Kapfer von der Bayerischen Grenzpolizei. Bis Mittag steigt die Zahl der Autos, die über den Grenzübergang bei Passau kommen, auf 500 an. Am Grenzübergang Freilassing werden zur selben Zeit 212 Autos registriert.

Hunderte von roten Luftballonherzchen mit dem Aufdruck „Herzlich Willkommen“ schweben vor der Passauer Nibelungenhalle in der Sonne. „Des war das Einzige, was wir schnell an Mobilar g'habt ham“, meint Paul Mösl vom Einkaufszentrum Donaupassage ganz aufgeregt. „Bringt's noch a paar Kistl Obst“, ruft der 44jährige seinen Helfern zu. Doch der Aufwand ist zunächst umsonst. „Meine sehr verehrten Damen und Herren, die angekündigten Busse kommen jetzt nicht“, tönt es über den Platz. Die Busse mit den potentiellen Kunden werden erst in den Abendstunden eintreffen, erklärt der Rosenheimer Bundesgrenzschützer, Klaus Polzien. Lediglich 35 DDR-Bürger sind in den frühen Morgenstunden in der Halle untergebracht worden, wo sich der Großteil von ihnen erst mal ausschläft. Aus humanitären Gründen werden keine Sonderzüge eingesetzt. Vielmehr haben die Österreicher 75 Busse bereitgestellt, die die Flüchtlinge direkt in die jeweiligen Zeltlager fahren sollen. Ich hab den ersten Trabi, der hereingezockelt ist, begrüßt“, brüstet sich der Passauer Stadtrat, Michael Kobler von der Freien Wählergemeinschaft. „So a Auto hört ma ja von weitem schon, da hab i gwußt, die Sache is in Bewegung“, gibt der Kommunalpolitiker fachmännisch zum besten. In der Halle hat die „Innstadt Brauerei“ ihren Stand aufgebaut. Drei Fässer Bier als Begrüßungstrunk sollen ausgeschenkt werden. „Wenn's z'wenig is, hol ma noch welches“, meint der Bierchauffeur, Karl Hickl. Ein junger Ostberliner läßt sich einen Becher Limo servieren. Er hat bereits einen Stadtbummel gemacht. Um einen Arbeitsplatz macht er sich keine Sorgen. „Hier kann man ja die gebratenen Tauben vom Baum nehmen“, glaubt der junge Mann. „Ich hab‘ vier Abschlüsse, wenn's sein muß, kann ich auch Bademeister machen“, betont er. Und: „Wir sind so informiert worden, wer Arbeit will, kriegt welche“. Warum er der DDR den Rücken gekehrt hat: „Man lebt bloß einmal und muß die Chance nützen.“ - „Über 4.000 Arbeitsplätze warten auf sie“, titelt denn auch die 'Passauer Neue Presse‘. Eine „Gemeinschaftsaktion des Bayerischen Rundfunks und des Arbeitsamtes“ wünscht „Viel Glück zum neuen Start“.

„Dreiviertel der Schuhe haben wir aussortieren müssen“, jammert der Passauer Caritas-Direktor Konrad Unterhitzensberger während seine Caritas-Helfer die Kleiderkammer in der Halle aufbauen. Winterschuhe werden noch benötigt. Doch ansonsten kann sich die Caritas vor Kleiderspenden kaum retten. Das Kleiderlager ist nach dem Aufruf vom Montag brechend voll. „Am Samstag is schon in der Zeitung gschtand'n, daß nichts mehr gebraucht wird, aber immer noch ruf'n Leut an“, stöhnt der Caritas-Helfer Gerhard Gibis.

Luitgard Koch

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