DAS WEIB - EIN NATÜRLICHER KULT

■ Die Künstlerinnen Bock und Sgier im Pelze

Am Anfang ist Hell und Dunkel. Und das auf dem Holzfußboden ausgebreitete schwarze Lackplastikquadrat, von Ecke zu Ecke diagonal durchkreuzt von doppelrosafarbenen, zweifußbreiten Samtbändern. Zwei der entstehenden Dreiecksfelder sind mit braunschwarzer Torferde (?) ausgehäufelt; ein drittes Feld belebt ein Häufchen weißer geriebener Kreide oder Mehl; das vierte ist leer.

Am Anfang sind auch, von der Zuschauerin aus gesehen hinter dem horizontalen Materialbild, rechts und links je ein halbmenschenhohes Podest mit Videogerät, der Schirm erleuchtet und fast leer. Nur jeweils rechts hinten ist Dinghaftes zu erkennen und - schaute die ideale Zuschauerin ausschließlich und lange genug hin - das fast in Stillstand gedehnte langsame sich Schieben eines unidentifizierbaren Körperballens nach vorne ins Bild und wieder zurück.

Und es wird Stimme. Auf Band gespeichert und also als technisches Material in beliebiger Wiederholung verfügbar. Die Stimme, weiblich, nimmt ihre technische Reproduzierbarkeit vorweg und hat alle „natürliche“ Intonation getilgt: Eine synthetische Anrufbeantworterin wirft vorpräparierte semantisch gruppierte akustische Lautbündel aus, die sich Wortkernen wie Lust, Begehren, Fleisch, Körper, Tod, Erde, Ich ankristallisiert haben. Die ideale Zuschauerin, hörte sie nur ausschließlich genug hin, würde die automatisierten Sinnatome zu Bedeutungsinseln im Zeichenstrom ballen. Alle Untiefen verknüpft ergäben ein schwersinniges Weltepos.

Die Videobänder laufen, die Stimme tönt (später treten Instrumentalklang und eine zweite, tiefere weibliche Stimme hinzu), das Bodenbild schweigt. Und es wird Weib. Nacheinander beschreiten zwei schwarzgewandete Frauen das zerlegte Geviert. Nacheinander schreiten sie - die Uhr der realen Zuschauerin mißt 45 Minuten - immerfort das Bodenbild ab; die große zuerst, die kleinere hinterher. Sie schreiten

-die ideale Zuschauerin würde, wenn sie nur von oben, aus göttlicher Zeitlosigkeit herabschauen könnte, die geschrittenen Muster von Kopie, Variation, Synkope erkennen

-den quadratischen Rahmen ab und sie schreiten die Diagonalen ab: nacktfüßig, die Haare hart nach hinten gekämmt, die eine zu einem braunen Knoten, die andere zu einem schwarzen Zopf, die Gesichter geradeaus gegen einen imaginierten Horizont gerichtet, die Augen ins Innere gesenkt, eine hinter der anderen.

Mehrmals geschieht dann zwischendurch Geschehen; die ideale Zuschauerin würde, schaute sie nur konzentriert und deutungsabstinent genug, den gestischen Zeichen die Choreographie der Wiederholung, Rhythmisierung, Steigerung, Peripetie und Antiklimax entlocken. Die reale Zuschauerin sieht unter wenigem anderen die große Frau auf Knien sich hinbeugen und die kleinere mit kurzem zweihändigen Griff den Kopf der Gebeugten zur Erde stoßen und dann fortschreiten. Das mehrmals, und beim letzten Mal fehlt etwas: der Zugriff der zweiten; und trotzdem schlägt die erste den Kopf zu Boden. Die Leerstelle produziert Bedeutung in der realen Zuschauerin. Sie ist jetzt schon so lange auf äußerst reduzierte Ereignisspeise gesetzt worden, daß der Druck von Sinnmangel sich an erstbester Stelle zur Explosion entlädt.

Der realen Zuschauerin füllen sich plötzlich und skrupellos die Erkenntnislücken mit Bekanntem. Ihr womöglich kollektives Gedächtnis produziert Verbindungsachsen in die leeren Stellen zwischen den Partialbildern. Die reale Zuschauerin sieht, was sie nicht sieht. Sie sieht die grausame Frau. Eine kräftige, große, strenge Frau mit hartem Gesicht, wie sie, allen hoffenden Blicken unzugänglich, unbeirrbar ihr Herrinnenrevier abschreitet. Sie sieht, geschichtsüberfallen und erschrocken, die brauntorfbodenzugeneigte Imago einer KZ-Wächterin. Sie sieht ihre Helferin, wie sie deren Gesten und Mimik von Unerbittlichkeit gleichzeitig übersteigern und sprengen will.

Die Künstlerinnen treten ab, die Stimm-Bänder verstummen. Der Zeichenfluß strömt fort im Kopf der realen Zuschauerin. Ihr schwindelt.

Sie wendet sich hilfesuchend an die ideale Zuschauerin: Ist das eine Performance? Performance, so hat sie gelernt, ist die neue, die weibliche Mischkunstform zwischen allen Stühlen aller Stile und Gattungen. Sie ist damit die weibliche Kunstform per se: Frauen als das klassisch fremddefinierte Geschlecht machen dieses ihr aus zweiter Hand Existieren selber zum Thema. Sie benutzen ihren Körper, ihre Stimme als Gerät, um weibliche Erfahrungspartikel und Lebensklischees, all den gehorteten Gesten- und Wörterschatzersatz auszustellen, zu imitieren, zu stilisieren, zu parodieren, zu arrangieren und zu revidieren. Der Körper wird zur Werkzeugkiste, das Fremde, das Zugesprochene, wird in artifiziell zerstückelter Repetition, in unsinniger Kombinatorik um so fremder. Das Ich, das keines mehr ist, wird zum Experimentierfeld, zur lustvoll gehandhabten Maschine, die ihr mechanisches oder vielmehr längst schon elektronisches Laufwerk zur Schau stellt. „Der Körper ist Instrument neben anderen. Nicht Ort der Eigentlichkeit, sondern des bewußten Diebstahls“ (das Zitat sowie Anregungen zu diesen Überlegungen sind einem Aufsatz von Michaela Ott, Ist Performance weiblich?, in Konkret Nr. 11, 1984, entnommen).

Da unterbricht die ideale Zuschauerin: Es ist alles ganz anders! Zuallererst handelt es sich nicht um eine Performance. Die beiden Künstlerinnen, Ulrike Bock und Brigitta Sgier, bestehen darauf, daß ihre vorgezeigten „Gebärden aus einem Gedächtnis“ ein „Auftritt“ sind. Sie treten, zwei ich-sagende Frauen, auf für Sinn. Der liegt, als allereigentlichster, auf dem Boden. Es ist nämlich das rosafarbene, kreuzweise gelegte Band auf der schwarzen Plastikfolie ein X. Und das ist das griechische Zeichen für ICH. Aha, sagt die reale Zuschauerin, die Künstlerinnen gehen also in sich. Sie schrei(t)en immerfort ICH. Das wußte sie nicht. Das Wissen liegt da auf dem Boden vor ihr. Es zelebriert sich vor ihren Augen; es spricht aber nicht. Unerhört.

Beide Zuschauerinnen gestehen sich an diesem Punkt ihre Sinnsüchtigkeit ein: vorbehaltlos die ideale; verlegen, da avanciertester Kunsttheorie eingedenk, die reale. Sinn soll sein, sagt die eine; Sinn schleicht immer ein, sagt die andere. Was der „Performance“ als Verhängnis droht, ist das Begehren des „Auftritts“. Wenn nämlich eine derartige Inszenierung ihr Instrumentarium: Worte, Variation, Bewegung, Klang, Mimik bis zum Verschwinden hin minimalisiert, wenn die Sprache monoton wird bis zur Litanei, die Bewegung schmal bis zur automatisierten Käfigmotorik, die Mimik ausdruckslos bis zur Leere der Ergriffenheit, und wenn vor allem kein Ausbruch von widersetzlichem Gelächter mehr möglich ist, dann verschließt sich die Schau zum Kult. Sie wird religiös.

Der religiöse Kult allerdings verlangt kein Verstehen mehr; der Sinn ist ihm, im kultischen Ritual von Eigentlichkeit, vorweg inhärent. Er bedarf kaum noch der Insiderinnen, die wissen, was ein X bedeutet. Aber es ist eine zusätzliche Genugtuung, wenn sie etwa erfahren, daß von den rund 120 Zuschauerinnen genau neun vorzeitig das Haus verließen, und daß die Taxifahrt, die die beiden Künstlerinnen nach vollzogenem Auftritt - der im übrigen ihre gemeinsame Ausstellung eröffnete - nach Hause brachte, genau neun Mark kostete. Denn die NEUN spielt, so hört die reale Zuschauerin, in der mathematisch-magisch-mystischen Grundlegung ihrer Kunst eine wesentliche Rolle.

Die ideale Zuschauerin bedarf keiner Sinnzugabe, sie weiß sich ohnehin immer schon glücklich aufgehoben. Und die reale bleibt, unerhört, ausgeschlossen aus dem heiligen ICH-X. Sie verläßt den Ort der eingeweihten Schwestern. Allerdings nicht ohne alle interessierten Frauen auf die schön und verwirrend anzuschauende nichtbewegliche Kunst der Künstlerinnen hingewiesen zu haben. Es sind unter anderem Partitur-Ausschnitte zu sehen und Fotografien verschnürter Frauen; und es sind Geheimniskästchen zu öffnen, die Alltagsreliquien weiblichen Lebens (Spiegelbruch, Jungfernkranz, Tagebuch...) verbergen. Jeden Abend stehen fünf verschiedene Videobänder und zwei Tonbandkassetten abspielbereit zur Verfügung. Letztere werden demnächst im Konkursbuch-Verlag erscheinen. Und schließlich ist jeden Dienstag und ausnahmsweise kommenden Freitag die Künstlerin Brigitta Sgier leibhaftig anwesend. Außerdem wird es einen weiteren Auftritt anderen Inhalts, aber unter demselben Titel zum Abschluß der Ausstellung geben.

Die echte Performance übrigens ereignete sich am Premierenabend im säkularen Schaubereich: Die spätfeministische Kunst toste vor der Bühne. Es traten auf Scheinknaben in streichholzkurzem Weißblond, Hosenträgerschönheiten, modische Matrosenanzüge und Brechtschiebermützendesign; Damen, die bedeutungsvoll der Bühne abgewandt auf dem Boden schliefen; frivole Kicherinnen, heimliche Qualmerinnen, energische kultzerreißende Hinausschreiterinnen; pinkfarbene Höchsthacken zu antikem hohlsaumdurchbrochenen Bodenhänger; dreißig Zentimeter lange Spitzesthalbschuhe und chaplineske Beutelhosen... Eine schöne neue, bewegte, vielfältige, kopierte, stilisierte, mutierte, automatisierte, amüsierte, erigierte, kurzum: hochartifizielle Outfit-Show.

Christel Dormagen

Ulrike Bock, Brigitta Sgier: Fotografien, Partituren, Installation, Ton-Szenarien, Video. Täglich ab 21 Uhr bis? Im Pelze multi media, Potsdamer Straße 139, 1/30; noch bis zum 1. Oktober; Abschluß-Auftritt am 30. September um 21 Uhr.