Der Stalinismus ist nicht tot

■ Auf der Biennale in Venedig war der erste Film über den Archipel Gulag zu sehen

Nijole Adomenajte (1958 in Litauen geboren, Absolventin der Theater-, Musik- und Filmhochschule Leningrad. Ihr Vater wurde 1952 aus politischen Gründen verhaftet, zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, 1956 aber wieder freigelassen) und Boris Gorlov (1956 in Archelansk geboren, Absolvent der gleichen Hochschule) haben den ersten sowjetischen Film über den Archipel Gulag gedreht. Komaspielt in den fünfziger Jahren in einem Frauenlager im Norden der Sowjetunion. Die Protagonistin hat eine Liebesgeschichte mit einem der Aufsichtsbeamten und bekommt ein Kind von ihm. Man zwingt sie, den Vater zu denunzieren. Die allerletzten Szenen des Films spielen heute. Giovanni Buttafava von 'Cinecritica‘ sprach mit den beiden Regisseuren.

Fürchtet ihr nicht, der Effekthascherei beschuldigt zu werden?

Effekthascherei liegt dann vor, wenn die Sensationen kalkuliert werden. Wir sprechen dagegen von unserem Alltag, von seinen schmerzlichsten Seiten. Wir sind Kinder von Eltern, von denen die einen auf der einen, die anderen auf der anderen Seite standen.

Warum habt ihr nicht die dreißiger Jahre für euren Film genommen?

Die dreißiger Jahre beeindrucken wegen des Ausmaßes und der Gewalt der Repression. Später wurde das alles Normalität. Solschenyzin erzählt in seinemArchipel Gulag von einem Kind, das das Leben im Gefängnis für ganz normal hielt: „Heute ist mein Vater im Gefängnis, in ein paar Jahren, wenn ich groß bin, werde ich darin sein.“ Das schien uns das Ungeheuerlichste. Nicht die Gewalt, sondern die Bereitschaft, sie zu akteptieren.

Darum haben wir auch ein Frauenlager genommen. Die unnatürliche Verbindung von Frau und Gefängnis, von Mutter und Konzentrationslager macht die Situation einer Gesellschaft, in der alles zur Normalität geworden ist, noch deutlicher. Was ist natürlicher, einfacher als der Wunsch, geliebt zu werden, ein Kind zu bekommen? Aber unter den monströsen Bedingungen des Lagerlebens wird dieser einfache Wunsch zu einer Schuld.

Auf welche historischen Quellen, welches dokumentarische Material habt ihr euch gestützt?

Wir haben uns auf eine Unmasse von Dokumenten und Memoirenliteratur gestützt, darunter auch auf die Bücher der Evgenija Ginzburg, Solschenyzin, Larina Bucharin, Tagebücher und Berichte von ehemaligen Gefangenen. Unsere wichtigste Beraterin war Valentina Bobrovitsch, die im Alter von 16 Jahren ins Lager kam, weil sie ein Spottlied über Stalin gesungen hatte. Achtzehn Jahre blieb sie im Archipel Gulag. Zwei Kinder hat sie dort bekommen. Sie war während des ganzen Films dabei, bei jeder Aufnahme.

Wie habt ihr das Lager rekonstruiert?

Wir haben es nicht „rekonstruiert“. Wir wollten größtmögliche Authentizität. Wir haben also in einem wirklichen Lager gedreht. Es wurde in den vierziger Jahren gebaut und ist noch gut erhalten. Es liegt bei Archangelsk. Einen Teil des Films haben wir sogar in einem immer noch verwendeten Lager gedreht. Die Szenen im Zimmer des Lagerkommandanten sind im Zimmer des derzeitigen Kommandanten gedreht worden. Die Baracke dagegen haben wir nachgebaut. Wir haben uns dabei an den damaligen Baracken und an Zeichnungen unserer Beraterin orientiert.

Wie verhalten sich „Erfindung“ und dokumentarische Wahrheit in eurem Film?

Die persönliche Geschichte unserer Heldin haben wir „erfunden“. Wir haben uns dabei aber genau an die Berichte derer gehalten, die damals in den Lagern gelebt haben. So haben wir in dieser einen Geschichte viele Lebensgeschichten konzentriert. Was die Atmosphäre angeht, das tägliche Leben der Gefangenen wie ihrer Wächter, haben wir uns peinlich genau an die Dokumente gehalten.

(Übersetzung: Alfred Schmidt)