Handlungsreisender der Reformgegner

Gorbatschow-Gegner Ligatschow sondiert politische Lage in der DDR  ■ K O M M E N T A R E

Wenn der zum Landwirtschaftssekretär degradierte ehemalige Ideologie-Sekretär Jegor Ligatschow zu einer offiziellen Stippvisite dieser Tage nach Ost-Berlin reist, gilt sein Interesse sicherlich nicht der Produktionssteigerung in Nächst Neuendorf, wie DDR-Zeitungen ihren Lesern weismachen wollen. Und wenn sein DDR-Gegenüber, Politbüromitglied Krolikowski, den Ausführungen des Kremlfalken über „die vielfältigen Anstrengungen der Kolchosbauern zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln“ in der UdSSR lauscht, wird auch dieser die „Informationen“ lediglich mit einem inneren Lächeln quittieren.

Für die alte Garde der SED stand schon vor Gorbatschow fest, daß es von der Sowjetunion in diesen Fragen nichts mehr zu lernen gibt. Sie konnte nur an einem Interesse haben: an der gemeinsamen Erklärung, die die „völkerrechtlichen Machenschaften der BRD“ anzuprangern. Die offizielle Stellungnahme der Sowjetunion in der Flüchtlingsfrage deckt sich in Schärfe und Richtung mit Ligatschows Erklärungen.

Offensichtlich hat man sich in Moskau mit Blick auf die DDR zur Arbeitsteilung entschlossen. Auch das hat Tradition in der KPdSU. Noch wichtiger allerdings ist, daß beide Lager in Moskau in Sachen DDR gemeinsam marschieren. Auf keinen Fall scheint den dortigen Machthabern an einer Destabilisierung der DDR gelegen zu sein, auch wenn sich in der DDR nichts in Richtung Reform bewegt. Und die momentan demoralisierte Führungselite in Ost-Berlin kann nur ein Ligatschow aufmöbeln. Seine Ausführungen zur „Einheit der Partei“ und „Warnungen“ vor dem „Aufweichen sozialistischer Positionen“ hätten genausogut aus dem Munde Günter Mittags stammen können.

Schon einmal in diesem Jahr war Ligatschow als offizieller Handlungsreisender der Reformgegner unterwegs. Am Grabe Janos Kadars sprach er treuen ungarischen Genossen Trost zu. Ausrichten konnte und sollte er dort wohl nichts mehr, denn mit Kadar starb auch die alte Partei. In der DDR geht es aber um mehr als nur Trost. In Moskau wird derzeit nämlich mit zweierlei Maß gemessen. Das offenbarte sich auch in der sowjetischen Haltung gegenüber dem ungarischen Entschluß, die Flüchtlinge trotz vertraglicher Verpflichtungen gen Westen ziehen zu lassen. Sie enthielt sich jeglicher Kritik.

So dient Ligatschows DDR-Mission vornehmlich der Sondierung der politischen Lage in der DDR im Vorfeld des kommenden SED -Parteitags und der drängender werdenden Nachfolgerfrage. Daß er dabei seine Eigeninteressen entfalten wird, die mit Reformen nichts gemein haben, beunruhigt in Moskau keinen. Im Gegenteil, dort interessiert nur eins: die Stabilität der DDR. Und mit Blick auf die KPdSU bedeutet Ligatschows Reise, daß die Fraktionsbildung nunmehr materielle Kraft angenommen hat.

Klaus-Helge Donath