Früchte des Zorns - neue Ernte

■ Für den Chronisten US-amerikanischen Lebens von unten, den Chicagoer Studs Terkel, schimmert die Große Depression der Enddreißiger hinter den Gesichtern der heutigen Farmer. Anläßlich des „Goldenen Jubiläums“ von John Steinbecks „Früchte des Zorns“, der die Go-West-Odyssee der Pächterfamilie Joad behandelt, schrieb Terkel für eine Neuausgabe dieses Vorwort

Wir schreiben 1989. Das Gesicht könnte man in den Sechs-Uhr -Nachrichten sehen. Es könnte ein Schnappschuß von Walker Evans oder Dorothea Lange sein. Doch das war vor 50 Jahren. Heute ist es das Gesicht eines Farmers aus Iowa, vierte Generation, der vor dem endgültigen Ruin steht. Ich habe dieses Gesicht schon einmal gesehen. Es ist das von Pa Joad, Muley Graves, und all ihren verlorenen Nachbarn, die von den Bulldozern überrollt wurden.

In den Augen von Farmer Carroll Nearmyer liegt mehr als Verzweiflung. Da ist unverhohlene Wut. Eine Wut, wie sie auch in den Augen seiner Vorgänger aus Oaklahoma lag.

Sicher, riefen die Pächter, aber es ist unser Land. Wir sind darauf geboren, und wir sind darauf getötet worden, wir sind darauf gestorben. Wenn es auch nicht gut ist, es ist unser Land. Darauf geboren zu sein, es bearbeitet zu haben, darauf gestorben zu sein - dadurch ist es unser Land geworden. Nur dadurch, und nicht durch ein Papier mit Zahlen drauf, gehört einem Land. (Kapitel 5)

Ich besuchte Carroll Nearmyer auf seiner Farm, 24 Meilen südöstlich von Des Moines. Die Dämmerung war sanft und leicht in diesem Mai 1987: „Schon öfter hatte ich den Gewehrlauf am Kopf und sie hat nichts gewußt. Ich wurde verdammt wahnsinnig. Und wenn ich über alles nachdachte, wurde ich noch wahnsinniger. Diese Leute haben kein Recht, mir das anzutun! Ich habe gerackert, geschwitzt, und ich habe dafür geblutet. Ich habe versucht, das hier am Laufen zu halten. Und dann wollen sie mir alles wegnehmen!“

Auf meiner Reise durch Iowa 1987 sah ich zu viele dieser kleinen Städte mit zu vielen verlassenen Straßen, die zu viele Bilder über die Große Depression in mir auslösten. Ich konnte einfach nicht den zerfurchten Gesichtern und krummen, buckligen Körpern von John Steinbecks Romanfiguren entkommen. Ein klassischer Fall von Leben, das Kunst widerspiegelt.

Die Männer schwiegen und bewegten sich nicht viel. Und die Frauen kamen aus den Häusern und stellten sich neben ihre Männer und versuchten zu spüren, ob diesmal die Männer zusammenbrechen würden. Die Frauen forschten heimlich in den Gesichtern der Männer, denn das Korn mochte verderben, solange etwas anderes blieb. (Kapitel 1)

Was aber war dieses andere? Es hat etwas mit Respekt vor sich selbst zu tun. Respekt, den man auch bei den Nächsten sucht, von dem man zumindest einen Hauch erwartet. Ein halbes Jahrhundert später erkennt das Carolyn Nearmyer, Carrolls Frau: „Die Frauen reden lieber mit anderen Farmerfrauen über ihre Probleme als mit ihrem Mann. Wenn ich mal einen Vorschlag machte, hat er sich immer ziemlich aufgeregt. Nicht, daß ich weniger wußte als er. Er wollte nur alles für sich behalten.“

Ma Joad kannte das auch. Obwohl sie beim Abschied Toms sagt: „Ich versteh‘ das alles nicht. Ich weiß wirklich nicht“. Sie weiß. Ihr großes Herz läßt sie lügen. Durch Toms Antwort schimmert dann die transzendentale Vision von Prediger Casy:

Ich denke mir, wie Casey sagt. Keiner hat 'ne eigene Seele und ist nur'n Stück von der großen. Und dann bin ich überall - überall - wo du hinsiehst. Wo's 'ne Prügelei gibt, damit die Hungrigen was zu essen kriegen, bin ich dabei. Wenn einer von 'nem Bullen geschlagen wird, bin ich dabei. Ich bin dabei, wenn welche schreien, weil sie wild und wütend werden - und ich bin dabei, wenn Kinder lachen, wenn sie Hunger haben und wissen, es gibt gleich was zu essen. Und wenn unsere Leute das essen, was sie selber gebaut haben, und in Häusern leben, die sie selber gebaut haben dann bin ich dabei.“ (Kapitel 28)

Die regelmäßigen Variationen dieses Themas in Früchte des Zorns gleichen denen einer Symphonie. Der Roman ist eher wie ein Musikstück komponiert - und ist Frank Lloyd Wrights Verständnis von Architektur nicht unähnlich. So wie Bach und Beethoven ihn begleiteten, wenn er Gebäude entwarf, so erfahren wir aus dem Tagebuch Steinbecks, das sich durch die Komposition des Romans zieht, daß dieser an die Üppigkeit Tschaikowskys und die Dissonanzen Strawinskis dachte, als er mit den Joads und den anderen der Sippe reiste.

In der musikalischen Struktur des Buches liegen Punkt und Kontrapunkt. Jedem Kapitel, das die Erlebnisse der einen Familie, jener der Joads, erzählt, folgt eine kurze kontrapunktische Sequenz: die Sippe, der Stamm. Tausende Familien aus Oaklahoma unterwegs - die Oakies. Die eine, die vielen, und alle wollen in die gleiche Richtung. Singular fließt über in Plural, das „Ich“ ins „Wir“. Ein organisches Ganzes.

„Organisch“ war Wrights Lieblingsbegriff. Alles war Teil eines Ganzen, so wie die Finger der Hand, die Äste eines Baumes. Sicherlich ist es kein Zufall, daß Wrights „Hotel Imperial“ in Tokio das Erdbeben 1924 überstand. Und es ist kein Zufall, daß die Früchte des Zorns einem anderen Erdbeben standhielten. 20 und mehr Familien machten auf ihrer Reise nach Kalifornien halt in der Nähe einer Quelle.

Am Abend geschah etwas Seltsames: Die zwanzig Familien wurden eine Familie, und die Kinder waren die Kinder aller. Der Verlust des alten Heims wurde ein gemeinsamer Verlust, und die goldene Zeit im Westen ein gemeinsamer Traum. Und es konnte geschehen, daß ein krankes Kind die Herzen von zwanzig Familien, von hundert Menschen, mit Verzweiflung erfüllte, daß eine Geburt in einem der Zelte Hunderte Menschen still und ehrfürchtig werden ließ während der Nacht und hundert Menschen am Morgen mit Freude erfüllte. (Kapitel 17)

Und schließlich, am Ende der Saga, kommt jener atemraubende Moment in der Scheune. Draußen der trommelnde Regen. Und drinnen schenkt Rose von Shannon, die gerade ihr Kind verloren hat, ihre Muttermilch einem kranken, hungernden Fremden. Das klingt wie ein altes Kinderlied - wie dessen atemberaubender letzter Vers. Und doch so natürlich.

Freunde, die das Manuskript gelesen hatten, waren skeptisch. Warum ein Fremder? Steinbeck wußte intuitiv warum. Der Impuls war richtig - organisch. Es paßte - eben wie die Finger der Hand, die Äste der Bäume.

Dieses Buch ist mehr als eine Erzählung über eine epische Reise in einem schwer beladenen, überfüllten alten Dodge jalopy entlang der Highway 66. Über heißen Wüstensand, unterwegs Richtung Kanaan, dem Land, in dem Milch und Honig fließen. Und weiter noch Richtung Desillusionierung und Offenbarung. Dieses Buch ist eine Hymne auf die menschliche Gemeinschaft. Und das Überleben.

Und diese Jubiläumsausgabe ist mehr als die goldene Geburtstagsfeier eines ewigen Buches. Es ist so aktuell wie die Dürre 1988. Wenn man mich fragt: „Was ist der beste Roman, den Sie dieses Jahr gelesen haben?“, ist die Antwort ganz einfach: Die Früchte des Zorns. 1939, als das Buch herauskam, nannte Dorothy Parker es „den größten amerikanischen Roman, den ich je gelesen habe“. Mit mir wird sie sich darüber nicht streiten müssen.

Die Achtziger zeichnen sich durch eine Ethik des Jeder-für -sich, durch Verachtung derer, die sich dagegen wehren, aus. Das spiegelt sich schon in unserer Sprache wider: Opfer werden zu „Verlierern“. Dieses Wort, mit seiner neuen Bedeutung, ist so bekannt und gebräuchlich wie „ganz unten“. Und weil ganz oben für „Verlierer“ kein Platz ist, haben sie nicht einmal mehr ein „Unten“. Die Joads wären in dieses dunkle Loch gefallen, so wie Millionen Enteignete heute.

Nicht, daß die Dreißiger keine schäbigen, gemeinen Seelen gekannt hätten. Gott weiß, die Joads und ihre Leute begegneten ihnen überall. Nicht nur die Klubs der Bürgerwehren, der Fluch der Großpflanzer, die eisige Kälte der Banken. Nein, dann solche Leute wie Joe Davis‘ Sohn. Als die Bulldozer anrollten und die Hütten der Pachtbauern niederwalzten, wurden sie von Söhnen der Nachbarn gefahren.

Der Mann, der in seinem eisernen Sitz saß, sah nicht wie ein Mensch aus: behandschuht, Gummimaske über Nase und Mund, war er Teil des Monsters, ein Roboter auf dem Sitz...

Nach einer Weile kam der Pächter raus und hockte sich neben ihn. „He, bist du nicht der Junge von Joe Davis?“ „Natürlich“. - „Na - und weshalb machst du diese Arbeit, gegen deine eigenen Leute?“ - „Drei Dollars am Tag... Ich habe Frau und Kinder. Wir müssen ja was essen. Drei Dollars am Tag, und das jeden Tag.“ - „Das ist richtig“, sagte der Pächter“. „Aber für deine drei Dollars am Tag können 15 oder 20 Familien überhaupt nichts essen. Rund 100 Leute müssen weg für deine drei Dollars am Tag. Stimmt's nicht?“. Und der Fahrer sagte. „Darum kann ich mich nicht kümmern. Ich muß an meine Kinder denken... Die Zeiten ändern sich, lieber Freund, hast du das nicht gewußt?“

Fünfzig Jahre später erzählt die Frau des Iowa-Farmers diese Geschichte. Sie war ein oder zwei Monate vor unserer Begegnung passiert: „Als der Deputy kam, um unsere Sachen zu holen, fragte ich ihn: 'Wie können Sie das tun und dann noch Ihrer Familie ins Gesicht schaun?‘ Ich wußte, daß er eine achtjährige Tochter hatte. Er sagte: 'Wenn ich's nicht tue, tut's ein anderer. Für mich ist das nur ein Job.‘ Das sind herzlose Leute für mich. Ich würde das niemandem antun, nur weil ich Geld brauche.“

Joe Davis‘ Sohn war immer dabei. Von seinem Standpunkt aus war alles verständlich. Jeder für sich, klar. Wer will schon „Verlierer“ sein in den Achtzigern? Vergangenheit, Geschichte, ist ausradiert worden, fast so mühelos wie man die Kreide an einer Tafel wegwischt. Da ist es zu leicht, den jungen Trottel lächerlich zu machen, der daherredet: „Depression heißt für mich, wenn ich nicht in meinem Sofa sitzen, mein Bier und zwei Titten in meinem Gesicht haben kann.“ Zu leicht, vielleicht. Da kommt die junge Frau aus Atlanta dem Kern schon näher. „Erzählungen über die Depression waren zuhause fast wie Märchen für mich. Was sie dir in der Schule dazu beibringen, ist nicht das, was wirklich war. Dir wird erzählt, daß die Leute hart arbeiteten, und dann wurde alles besser. Nie hört man etwas von den schweren Zeiten. Das macht mich wütend. Es ist, als ob man mich vor meiner eigenen Geschichte schützen will.“

Als der Zweite Weltkrieg die Große Depression beendete und die Nachkriegsprosperität - und natürlich auch Gott Amerika segnete, erfuhren Millionen Menschen, die vorher auf Messers Schneide gelebt hatten, eine ungeahnte Sicherheit. Da war es doch viel einfacher, an Gedächtnisschwund zu leiden, als sich an die dunklen Zeiten der 30er Jahre zu erinnern. So ging das selbst den Söhnen und Töchtern der Oakies.

„Bin heute fertig geworden, und ich hoffe mit Gott, daß es gut wurde.“ So enden die Eintragungen Steinbecks am 26.Oktober 1938. Er hatte schon Erfolg, und dennoch nagte der Selbstzweifel an ihm. Von Mäusen und Menschen war auf dem Weg, auch als Theaterstück ein Erfolg zu werden. Daß es ihm so gut in all dem Elend und der Ungerechtigkeit ging, belastete Steinbecks soziales Gewissen. Er war auf ihren Feldern gewesen, hatte mit ihnen in Vorbereitung dieses Buches zusammen gearbeitet; er hatte ihre Gesichter gesehen. „Der Erfolg wird mich ruinieren.“ Doch allen Schuldgefühlen zum Trotz: Er war Teil der Karawane, ebenso Pilger auf dieser Joad-Hedschra wie der Prediger Casey oder Onkel Tom. Man denke nur an seinen Einstieg im Tagebuch, 15.Juli 1938: „35. Tag. In sechzehn Tagen bin ich zur Hälfte durch. Bis dann muß ich meine Leute bis nach Kalifornien bringen.“ Und diese gottverdammte Wüste liegt noch vor ihnen. Wie sagte er? Meine Leute.

Es ist nichts Pirandellohaftes in diesem Geschriebenen. Nichts Distanziertes oder gar Ironisches. Diese Charaktere liefen nicht ziellos herum und suchten einen Autor. Sicherlich, sie waren unterwegs, aber immer war der Autor bei ihnen. Er war Teil ihrer Sippe geworden.

John Steinbeck kannte die Bürgerwehren und erlebte, wie 1936 in Delano der Streik der Traubenpflücker von den Mächtigen der Stadt zerquetscht wurde. Das war sein Heimspiel. Er hatte die verhärmten Gesichter der 5.000 Migrantenfamilien gesehen, die Visalia verlassen mußten. Und er wußte genau, was im Imperial Valley geschah. Er war drauf und dran, Experte zu werden. Arbeit auf dem Feld, Arbeit, die den Rücken krümmte. Diese Arbeit hatte er gesucht, gewollt.

Glücklicherweise gab es eine Regierung in Washington, die begriff. Um Präsident Franklin Roosevelt scharte sich ein Kreis, der ein Gefühl für Geschichte hatte, etwas, das die Schwarzen „feeling tone“ nennen. Sie wußten, daß neue Wege beschritten werden mußten, um das zu tun, was notwendig war: das erschütterte Selbstvertrauen der Leute wieder aufzurichten. Für amerikanische Verhältnisse vollkommen neu entstanden Regierungsbüros.

Eines von ihnen war die „Verwaltung zum Schutz der Farm“ (FSA). Einige der unauslöschlich mit den Dreißigern verbundenen Photographien waren das Werk von KünstlerInnen, die für die FSA arbeiteten: unter ihnen Walker Evans, Margaret Bourke-White, Dorothea Lange und Ben Shahn. Die Dokumentarfilme Der Pflug, der die Prärie bezwang und Der Fluß waren von der FSA produziert worden. Autor/Direktor war der begabte Filmemacher Pare Lorentz, ein Freund John Steinbecks.

Eine dieser New-Deal-Organisationen, die „Wiederansiedlungs -Behörde“ (RA), arbeitete mit Steinbeck bei dem zusammen, was dann zu den Früchten des Zorns wurde. Lassen wir doch einfach C.B. (Beanie) Baldwin alles erzählen, damals stellvertretender Direktor der RA: „Steinbeck rief mich eines Tages an. Er brauchte Rat, wollte dieses Buch über die Wanderarbeiter schreiben. Er sagte: „Ich will über Menschen schreiben, also muß ich so leben wie sie.“ Sieben, acht Wochen wollte er als Bohnenpflücker oder so arbeiten. Er bat uns, ihm jemanden als Begleiter zu geben, einen Wanderarbeiter. Wir suchten einen Typ namens Collins aus Virginia aus. Ich zahlte Collins‘ Lohn, und sie arbeiteten zusammen auf den Feldern. Steinbeck tat dann etwas sehr Schönes. Er bestand darauf, daß Collins technischer Direktor des Films 'Früchte des Zorns‘ wurde.“

John Fords klassische Verfilmung hält sich erstaunlich glaubhaft an Steinbecks Vision. Neben Nunally Johnsons superber Übernahme war es vielleicht gerade die Anwesenheit von Tom Collins, dem technischen Direktor, der diese Genauigkeit garantierte.

Steinbeck wollte es alles so haben. Er wußte genau, daß die mächtigen Pflanzer und ihre Organisation, die „Vereinigung der Farmer“, über das Buch rasend wütend sein würden. „Die großen Farmer haben eine hysterische Attacke gegen mich gestartet. Ich bin Jude, pervers, Säufer, Kiffer.“ In seinem Tagebuch erzählt er von einem ihm wohlgesonnenen Sheriff, der ihn warnte, allein in Hotelzimmern zu bleiben. „Die haben für Sie eine Vergewaltigung parat. Eine Frau kommt rein, reißt sich die Kleider vom Leib und schreit. Sie können's ja mal versuchen, da heil rauszukommen. Die brauchen ihr Buch gar nicht anzurühren, die haben andere Mittel.“

Und sie haben es doch angerührt. Sie haben noch viel mehr getan. Mehrmals haben wurde sein Buch in seiner Heimatstadt verbrannt. Heute nennt sich die Bibliothek in Salinas nach ihm, und die Handelskammer brüstet sich, im „Steinbeck-Land“ zu liegen.

Doch der Kampf ist noch nicht ganz beendet. Die Früchte des Zorns ist das zweitgebannteste Buch in amerikanischen Schulen und öffentlichen Büchereien. Es kann nicht die Sprache sein. Die ist verglichen mit heute geradezu sanft. Es muß etwas anderes sein. Was? Eine Erklärung hat der Autor selbst gegeben: „Ich bin absolut parteiisch wenn es darum geht, daß Arbeiter das essen können, was sie pflanzen, das tragen, was sie weben, benutzen, was sie produzieren und durch die Arbeit ihrer Hände und Köpfe teilen.“ Tom Joads Vision war John Steinbecks Vision. Subversiv für gewisse Kreise.

Die Szene, die die Mächtigen am meisten beunruhigte, war wahrscheinlich jene in der Regierungslager-Episode. „Und Sie sagen, es gibt keine Bullen?“ - „Die Leute hier wählen ihre Bullen selbst“, sagte der Wächter... „Es gibt fünf Sanitäreinheiten. Jede wählt einen Mann fürs Zentralkomitee. Und das Komitee macht die Gesetze. Was das Komitee sagt, gilt.“ - „Wenn die aber nun mal ungerecht sind“, sagte Tom. „Ja, das Komitee ist genauso schnell aufgelöst, wie's gewählt ist.“ - „Dann sind da noch die Damen. Die kommen morgen zu Ihrer Mutter. Die halten Ordnung, passen auf die Kinder auf und kümmern sich um die Sanitärabteilungen. Wenn Ihre Mutter nicht arbeitet, muß sie auf die Kinder von 'ner Frau aufpassen, die arbeitet. Und wenn sie 'ne Arbeit kriegt - dann machen eben die andern dasselbe.“ - „Na, um Gottes Willen, weshalb gibt's denn dann nicht mehr solche Camps?“ „Das müssen Sie schon selber rausfinden“, sagte da der Wächter mürrisch. „Und jetzt gehen Sie schlafen.„ (Kapitel 22)

Daß Steinbeck den „fühlenden Ton“ hatte, das sagt uns auch John Beecher, der Südstaaten-Poet. Er organisierte ein Lager für schwarze Pächter in den Everglades von Florida. „Morgens öffneten wir das Tor und ließen jeden rein, der wollte. Keine Papiere oder so. Es reichte, wenn eine Familie hier leben wollte. Es gab keine Wachen und keiner hatte eine Waffe, obwohl wir tausend Leute waren. Wir sagten ihnen einfach nur, daß es ihr Lager wäre. Außer ihren von einem gewählten Rat erlassenen Gesetzen gab es keine anderen. Einige der Männer und Frauen im Rat konnten gerade mal ihren Namen schreiben. Es waren einfache Landleute, Baumwollpflücker, von denen die großen Pflanzer sagen, sie würden das Land ruinieren, könnten sie wählen. Ich weiß nur eins: Ich habe lebendige Demokratie gesehen.“

Kein Wunder, daß die „Vereinigung der Farmer“ und ihre Freunde im Kongreß so in Rage gerieten. Kein Wunder, daß Peggy Terry anders darüber denkt. Peggy wurde in West -Kentucky geboren. Sie konnte gerade mal die Volksschule abschließen. Ansonsten war ihr Lehrer die Große Depression. Lange war sie unterwegs, auf den Highways, den dreckigen Straßen, hatte auf den Feldern gearbeitet, in Scheunen geschlafen, ihren dünnen Mann bei sich, und wie Rose von Shannon, schob sie einen dicken Bauch vor sich her. Irgendwann, erinnert sie sich, gab ihr jemand ein opulentes Taschenbuch: „Als ich die Früchte des Zorns las, war das, als ob ich mein eigenes Leben nachlebte. Nie zuvor war ich so stolz auf arme Leute gewesen.“

Übersetzung: Andrea Seibel

John Steinbeck: „Früchte des Zorns“, Roman, dtv 1680

John Steinbeck: „Tagebuch eines Romans“, dtv 10717