Türkei am Pranger

Die Situation politischer Häftlinge in der Türkei wird von den Straßburger Menschenrechtsorganen geprüft  ■  Aus Straßburg Th. Scheuer

„Wir haben uns entschlossen, Gerechtigkeit auf internationaler Ebene zu suchen“, mit dieser Erklärung betraten gestern morgen türkische Rechtsanwälte das Straßburger Menschenrechts-Palais, den Sitz des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. In der Aktentasche hatten die Advokaten eine umfangreiche Anklageschrift, in der der Türkei schwere Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgeworfen werden.

Diese Konvention des 23 westeuropäische Staaten zählenden Europarates, der auch die Türkei beigetreten ist, sehen die Anwälte im Falle ihrer beiden Klienten Oguzhan Müftüoglu und Nasuh Mitap, - beide Mitglieder der oppositionellen Gruppe „Devrimci Yol“ - gleich mehrfach verletzt: Bis zu ihrer Verurteilung im Juli dieses Jahres wurden beide fast neun Jahre in Untersuchungshaft gehalten, was dem Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer kraß widerspricht. Das gesamte Verfahren wurde vor einem Militärtribunal nach dem Kriegsrecht geführt, selbst dann noch, als das Kriegsrecht in der Türkei 1985 bereits wieder abgeschafft worden war. Die Konvention gestattet jedoch kein Ausnahmerecht und fordert in Artikel 6 eine „unabhängige und neutrale“ Gerichtsbarkeit.

Schließlich, so der schwerste Vorwurf, seien die beiden Häftlinge während der „Voruntersuchung“ durch die türkische Polizei über mehrere Monate weg wiederholt gefoltert worden. „Die gesamte Voruntersuchung basierte in diesem Fall auf Folter“, heißt es in der Klageschrift der Anwälte. Vier Mitangeklagte seien gar an den Folgen der Folter gestorben. Das Urteil als solches, so das juristische Fazit der türkischen Anwälte, sei allein deshalb nach rechtsstaatlichen Kriterien für ungültig zu erklären, da es sich auf Aussagen stütze, die durch Folter erzwungen wurden.

Bevor das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eröffnet werden kann, muß die gestern eingereichte Klage noch von der Menschenrechtskommission für zulässig erklärt werden. Dies wird erwartet; denn bereits im Mai dieses Jahres hat die Kommission die Klagen der beiden türkischen Oppositionspolitiker Sargin und Yagci für zulässig erklärt. Beide waren im November 1987 bei ihrer Rückkehr auf dem Flughafen Ankara vom Flugzeug Fortsetzung auf Seite 2

weg verhaftet worden. Auch sie werfen der Polizei Folterungen und menschenunwürdige Behandlung vor.

Mit der Folterung von Häftlingen, sollte sie vom Gerichtshof festgestellt werden, hätte die Türkei nicht nur die Europäische Menschenrechtskonvention, sondern auch die Anti-Folter-Konventionen der UNO und des Europarats verletzt.

Auch diese beiden Konventionen hat die Türkei ratifiziert.

Auch im Europäischen Parlament kamen die Bedingungen für die politischen Gefangenen in der Türkei am Donnerstag zur Sprache. Die Fraktionen der Sozialisten und der Grünen legten dem Plenum Resolutionen vor, in denen die Menschenrechtsverletzungen und die Haltung der Regierung während des kürzlichen Hungerstreiks verurteilt werden. (Die Abstimmung fand nach Redaktionsschluß statt.) Die Grünen fordern außerdem von der Brüsseler EG-Kommission, dem Parlament einen jährlichen Bericht über die Situation der Menschenrechte in

der Türkei vorzulegen, an dessen Ergebnis sich die Organe der EG wie auch die Mitgliedsregierungen in ihrer Politik gegenüber der Türkei orientierten sollten.

Die türkische Regierung reagiert erfahrungsgemäß sehr empfindlich auf die Behandlung solcher Themen durch europäische Institutionen, da sie wegen der notwendigen Wirtschaftshilfe der EG-Länder, vor allem aber im Hinblick auf eine angestrebte EG-Mitgliedschaft um einen rechtsstaatlichen Schein bemüht ist. Am 27. September steht dem Straßburger Europarat ein offizieller Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Turgut Özal ins Haus.