Die Reise ins Landesinnere

■ Der Dokumentarfilmer Mathias von Gunten filmt seine Schweiz

In einer einjährigen Langzeitbeobachtung hat der Mathias von Gunten Die Reise ins Landesinnere unternommen und sechs seiner EidgenossInnen auf die Finger geschaut. Da ist das greise Fräulein, der die Kamera beim Schälen schrumpeliger Äpfel und beim akribischen Bettenmachen zuschaut. Schwer atmend erklärt sie mit leiser Stimme, daß sie nichts, wo Arbeit drinsteckt, wegwerfen kann. Sie sagt es so selbstsicher und bestimmt, daß sich unweigerlich Rührung einstellt. Da ist nichts aufgesetzt oder konstruiert, es ist einfach so.

Doch auch die weiteren Mitwirkenden haben eine Menge alltägliche Spannung zu bieten: Die Nachrichten -Koordinatorin vom Schweizer Fernsehen, die im Zehn-Tage -Rhythmus Funkkonferenzen mit der ganzen Welt abhält, bis sie vor lauter Stress

krank wird. Oder der Ex-Manager und Aussteiger, der nun allein auf einem Berg lebt und im wahrsten Sinne des Wortes von der Hand in den Mund lebt. Von Gunten hat einen filmischen Sinn für das Detail. Als der grauhaarige Eremit mit traurigen Augen ein Tschernobyl-geschädigtes Kaninchen notschlachtet, entfährt dem Tier in Todeserwartung ein herzerweichender Schrei. Ein kleines Stück Schweizer Realität im Jahre 1988.

Die Bilder der verschiedenen Menschen sind verwoben wie zu einem Flickenteppich, der nach und nach Form annimmt. Die gebrochene Sicherheit der alten Frau und der Überlebenskampf des Einsiedlers stehen im Kontrast zum Kulturdenkmalschützer, der photographiert und archiviert, um im atomaren „Ernstfall“ zu retten, was zu retten ist.

Der Verdienst des Regisseurs ist seine liebevolle Annäherung an die Mitwirkenden. Mit der Kamera schafft er Verbindungen, Gegensätze, zeigt Entwicklungen. Gewissenhaft scheinen sie alle zu sein. Der Häusle-Bauer in einem Miniaturdorf ebenso, wie eine Gruppe von Menschen, die sich sommers wie winters am Ende der Landebahn des Flughafens Zürich-Kloten eingerichtet haben. Jede Iljuschin oder Boeing wird fachgerecht kommentiert und diskutiert, die große Welt findet auf dem Parkplatz statt.

Im Laufe des Films entsteht der Eindruck, ein kleines Häufchen Menschen besser kennengelernt zu haben: ein winziger aber brennglas-scharfer Ausschnitt des Lebens jenseits der hohen Berge. So etwas muß ein Film erst einmal schaffen. J. Franck

Cinema, Sa. 19 Uhr