JESUSLATSCHEN UND LANGE HAARE

■ If you're going to San Francisco...

Wenigstens der Taxifahrer ist zufrieden: Das Fahrziel in der Haight Street entspricht seinen Vorstellungen von „real San Francisco“. Das trübe Wetter scheint die gute Laune des Einheimischen in keiner Weise zu trüben. Im Gegenteil: „Wir brauchen dringend Regen“, lobpreist er die herabfallenden Wassermassen. Ich schweige und beschließe, meine Wunschträume vom ewigen kalifornischen Sonnenschein schleunigst zu vergessen.

San Francisco hat's auch bei Regen in sich! Nach den ersten Schritten über die abendliche Haight Street stellt sich augenblicklich Euphorie ein. Allen aktuellen Modetrends trotzend, tragen die hier Versammelten Jesuslatschen, Batik -T-Shirts und schlichte Langhaarfrisuren; ein Alt-Hippie versucht sich vergeblich als Neil-Young-Double; ein fliegender Händler bietet konspirativ rauchbare Glückseligkeit an. Ja, so muß es wohl auch damals hier gewesen sein im Sommer der Liebe, denke ich. Im „Chattanooga Cafe“ verschaffe ich mir anhand der ausliegenden Veranstaltungsblätter einen ersten Überblick. Und Treffer: Eleventh Dream Day geben ein Konzert. Nur: Wo ist die „Paradise Lounge“? Im South-of-Market-Distrikt, mit dem Bus in einer Viertelstunde zu erreichen, erklärt mir das Pärchen am Nachbartisch mit vereinten Kräften.

Eine Dreiviertelstunde später stehe ich vor der „Paradise Lounge“, mitten in einem dunklen Gewerbegebiet. Der freundliche Türsteher will keinen Eintritt, sondern nur einen Blick auf meine Identity Card. Und dann kann's losgehen: „Ladies and Gentlemen, tonight at Paradise Lounge: Eleventh Dream Day!“ Wie bringt es eine Band aus Chicago nur fertig, so frischen Westcoast-Rock zu spielen? Fantastic! Als Baird Figi die Anfangsakkorde von Tarantula anschlägt, tanzen die Kids längst auf den Stühlen. Gegen halb zwei ist der Wahnsinn vorbei, endlich raus an die Luft.

Die Haight Street bei Tageslicht wirkt ernüchternd: Souvenirshops, auf Second-hand getrimmte Edelboutiquen und die Krönung: ein Eiscafe mit 20minütiger Aufenthaltsbegrenzung. Im „Cafe 1705“ lerne ich Paul kennen, einen 68er-Veteranen, der sich als Kunstmaler durchschlägt. „Haight-Ashbury samt seiner Träume“, sagt er, „ist längst bis in den letzten Winkel vermarktet. Was du hier siehst, hat mit früher nichts mehr zu tun.“ Die letzten Fossilien aus jenen love-and-peace-bewegten Tagen sitzen in den Häusereingängen und fragen die Vorbeigehenden nach „spare change“, ihrem Bettel-Obolus. „You can't always get what you want“, singt einer von ihnen mit rauher Stimme.

Meinen Haight-Ashbury-Blues kuriere ich im angrenzenden Golden Gate Park. Diese rechteckige grüne Oase grünt und blüht fünf Kilometer weit, bis hinunter zum Pazifischen Ozean. Kaum zu glauben, daß dieses Paradies ausnahmsweise einmal von Menschenhand geschaffen worden ist. Erst vor gut einhundert Jahren begann man, dieses bis dahin von kargen Sanddünen bedeckte Gebiet mit Pflanzen und Bäumen aus aller Welt zu begrünen. Die streßgeplagten Yuppies, die heutzutage den Park joggend durchqueren, werden's ihren Vorfahren danken.

San Francisco mit seinen buntgemischten 750.000 Bewohnern ist Verwaltungszentrum der Bay Area und Finanzmetropole der gesamten Westküste. Zigtausende von Menschen strömen allmorgendlich in die Bürotürme nach Downtown S.F. Viele der Pendler werden mit der Schnellbahn durch den sechs Kilometer langen Bay-Tunnel vom Ostufer der Bucht in die City gepumpt. Diese Unterwasserröhre gilt als Herzstück des 1974 eröffneten „Bay Area Rapid Transit System (BART)“, einem computergesteuerten Schnellbahnnetz, mit dem die Planer das tägliche Chaos auf den Zubringerstraßen bändigen wollten. Doch die von ihnen erhofften Fahrgastzahlen blieben nicht zuletzt aufgrund der großen Störanfälligkeit des technischen Wunderwerks weit hinter den optimistischen Erwartungen zurück. Um dennoch genügend Geld für die kostspielige Unterhaltung des Verkehrsmittels einzufahren, wird in der Bay Area auf sämtliche Güter und Dienstleistungen ein halbes Prozent mehr Steuern erhoben als andernorts in Kalifornien. Eine Maßnahme, die die Popularität der „BART“ endgültig auf den Nullpunkt brachte.

Wesentlich beliebter - nicht bloß bei Touristen - sind da schon die legendären Cable Cars. Auf insgesamt noch drei Strecken rumpeln die von unterirdischen Stahlkabeln gezogenen Vehikel mit eingebauter Vorfahrt die steilen Straßen von San Francisco rauf und runter. Im Fahrpreis der Cable Cars enthalten sind Klischeebilder wie das Aufspringen eines geschniegelten Bankers auf das überfüllte Trittbrett oder Ausblicke wie auf der California Street: im Vordergrund die postmodernen Monolithen des Finanzdistriktes, dahinter wie aus dem Fischer-Baukasten - der Brückenturm der nach Oakland führenden Bay Bridge. Blickfang in dieser Hitparade architektonischer Gigantomanie ist jedoch die „Transamerica Pyramid“, ein 48stöckiges Bürohochhaus, das mit seiner unkonventionellen Keilform das Kistenpanorama der Skyline futuristisch auflockert.

Nach soviel Abenteuer bieten wir dem Banker unseren Platz an und verschwinden im Getümmel von Chinatown. 70.000 Menschen hausen dichtgedrängt in dieser größten geschlossenen Chinesengemeinde außerhalb Asiens. Die vollgestopften Läden entlang der Grant Avenue bedienen mit ihrem kunterbunten Sortiment Einheimische und Touristen gleichermaßen: Von elfenbeinernen Rückenkratzern über Puppenmöbel, Postkarten und Transistorradios bis hin zum Küchengeschirr wird alles mögliche und unmögliche verscherbelt.

Mediterran-gelassen geht es nördlich von Chinatown zu beiden Seiten der Columbus Avenue zu. Hier in North Beach, einst Pilgerort der Beat generation, sind Pizzerien und Cafes Trumpf. Auf den Bänken des Washington Square, zu Füßen der pompösen Sts. Peter and Paul Cathedral, lebt man sein Leben ganz spontan, wenn man kann. Östlich dieser Piazza erhebt sich der Telegraph Hill mit dem markanten „Coit Tower“, der in seiner Form einer Feuerwehrspritze nachempfunden ist. Von hier oben bekommt der geneigte Betrachter eine grandiose Aussicht über den nördlichen Teil der Bay geboten: Der Blick wandert von der Bay Bridge im Osten hinüber zum Museumsgefängnis Alcatraz und weiter über den Touristenmagneten Fisherman's Wharf hinweg bis zum Golden Gate. Überspannt wird diese knapp zwei Kilometer breite Meerenge zwischen Pazifik und Bay von der Golden Gate Bridge, die seit nun schon 52 Jahren eine Malerkolonne auf Trab hält.

Ein Sonnenuntergang auf dem Telegraph Hill mit der orange -leuchtenden Golden Gate Bridge im Hintergrund macht sentimental. In solchen Augenblicken ist man sogar geneigt, den euphemistischen Wetterfröschen zu verzeihen, die schon wieder voller Optimismus eine „achtzigprozentige Regen -Chance“ weissagen.

Ralf von der Heide