Hilfe zur Selbsthilfe?

Gorbatschow fährt nach Ost-Berlin  ■ K O M M E N T A R E

Daß Gorbatschow zum 40. Jahrestag der DDR in die Hauptstadt kommen wird, ist gewiß eine brisante, wenn auch nicht überraschende Nachricht. Die Erwartung, die manche mit diesem Besuch verbinden, er werde nun als Deus ex machina aus dem Osten die versteinerten Verhältnisse auch dort zum tanzen bringen, scheint allerdings verfehlt. Der Bote, der die Nachricht überbrachte, Ligatschow, steht für das Programm.

Kein Flügel in der Führung der UdSSR, deren Einflußbereich mit zunehmender Geschwindigkeit zerfällt, hat Interesse daran, diesen Prozeß selbst noch zu forcieren. Dies um so weniger angesichts der in der Bundesrepublik neuerlich florierenden Vereinnahmungsträume gegenüber der DDR. Es ist zwar richtig, daß wahrscheinlich die beste Methode, um die Eigenstaatlichkeit der DDR und das Bündnis dieses Staates mit der Sowjetunion längerfristig zu sichern, eine entschlossene Reformpolitik wäre. Doch in der gegenwärtigen Bedrängnis hat das gemeinsame kurzfristige Interesse an einer Eindämmung des Erosionsprozesses im sowjetischen Bündnissystem wohl Vorrang. Daß die sowjetische Führung dennoch bemüht ist, sich alle Optionen offenzuhalten, zeigt der Umstand, daß selbst Ligatschow nicht dazu zu bewegen war, der SED-Kritik an Ungarn öffentlich beizupflichten.

Die Sache wird dabei aber nicht ihr Bewenden haben. Der führende Kopf der sowjetischen Konservativen hat bei seinem Besuch auch schon die potentiellen Nachfolger auf den Posten des Generalsekretärs in Augenschein genommen. Daß sein Kontrahent und Chef in dieser Angelegenheit ebenfalls aktiv werden wird, ist anzunehmen. Auch wenn es kein „Moskauer Diktat“ geben wird, ihren Einfluß werden beide Richtungen in der sowjetischen Führung geltend zu machen suchen. Die Weichen für eine künftige, gewiß vorsichtige reformerische Öffnung der DDR werden - wenn überhaupt - in diesen Monaten gestellt.

Für all diejenigen in der DDR, die mit zunehmender Ungeduld darauf warten, daß die Dinge endlich in Bewegung kommen, ist das viel zuwenig. Sie werden - ähnlich wie bei Gorbatschows Besuch 1987 in Prag - den Besucher als Symbol für die Möglichkeit einer anderen Politik und als Hoffnungsträger begrüßen und sie werden eine zurückhaltende, Wohlwollen nicht ganz verbergende, vor allem aber beschwichtigende Antwort erhalten. Und danach einmal mehr die Gewißheit haben, daß sie sich nur selbst helfen können.

Walter Süß