Ungarns Grenzen bleiben offen

■ Antwortnote der ungarischen Regierung an die DDR / Ligatoschow spendet Ost-Berlin weiteren Trost / Gorbatschow kommt doch zum Jubiläum / Fortsetzung des Oppositionsgründungsfiebers bei den DDRlern

Berlin (taz) - Die ungarische Regierung hat sich mit einer Antwortnote und mehreren Erklärungen ihrer Diplomaten gegen die Angriffe der DDR-Regierung zur Wehr gesetzt. In der Note heißt es, der DDR sei rechtzeitig die Öffnung der Grenze für den Fall angekündigt worden, daß die Gespräche zwischen der BRD und der DDR zur Lösung der Flüchtlingsfrage zu keinem Ergebnis führen. Eine Übernahme der „Berliner Lösung“ (das heißt, Rückkehr in die DDR, Straffreiheit und anwaltschaftliche Beratung) sei der DDR von der ungarischen Regierung nie zugesichert worden und im übrigen auch undurchführbar gewesen.

Scharf wird auch die juristische Argumentation der DDR zurückgewiesen: Die Suspendierung von Teilen des Abkommens Ungarn/DDR sei durch die Klausel gedeckt, die eine Kündigung bei „grundlegender Veränderung der Umstände“ zuläßt. Die ungarische Regierung unterläßt es auch nicht, auf die Menschenrechtspakte und KSZE-Vereinbarungen hinzuweisen, die die internationale Freizügigkeit garantieren - und denen Ungarn wie die DDR beigetreten ist.

Dementiert haben ungarische Diplomaten, daß die Grenze am 7. OKtober wieder dichtgemacht würde. Ferenc Somogyi, Staatssekretär im Außenamt: „Glauben Sie mir, es ist noch kein Termin festgesetzt worden. Die Grenze bleibt solange offen, wie Ungarn dies für nötig hält. Alle DDR-Bürger, die sich in Ungarn aufhalten, werden Gelegenheit haben, das Land zu verlassen.“

Von Montag bis Freitag haben rund 14.000 DDRler die Grenze nach Österreich passiert. Während sich in Prag für die in der Botschaft ausharrenden DDRler keine Lösung abzeichnet, ist in Warschau im Außenministerium eine Arbeitsgruppe gebildet worden, um eine „humanitäre Lösung“ für die rund 50 DDR-Flüchtlinge in der dortigen Botschaft zu erreichen. Solidarnosc-Journalisten meinten, der „ungarische Weg“ für die Botschaftsbesetzer sei in Polen nicht gangbar. Man müsse Rücksicht auf die Bündnisverpflichtungen nehmen.

Die sowjetischen Medien unterstützen weiter den DDR -Standpunkt, vermeiden aber Angriffe auf Ungarn. Jegor Ligatschow, in Sachen Landwirtschaft und moralische Aufrüstung in der DDR unterwegs, erklärte feierlich: „Alle, die die Souveränität und Unabhängigkeit der DDR antasten wollen, müssen wissen, daß die Sowjetunion als treuer Freund und Verbündeter der DDR entschlossen ist, den Freundschaftsvertrag mit der DDR strikt einzuhalten.“ Ligatschow mahnte erneut zur absoluten Disziplin der Kommunisten, forderte „Geschlossenheit der Reihen“ und „ideologische wie organisatorische Konsolidierung“. Wenn, so der Ordnungsfreund, in der KPdSU Ordnung herrscht, dann auch in der Fortsetzung auf Seite 2

Dokumentation auf Seite 8

FORTSETZUNG VON SEITE 1

Gesellschaft. Ligatschow verkündete den Besuch Gorbatschows zum 40. Geburtstag der DDR. Laut 'adn‘ ist diese Nachricht dort mit Dank und Freude zur Kenntnis genommen worden. Von seiten der DDR und der KPdSU wird hervorgehoben, daß die konstante und dynamische Entwicklung in der DDR von besonderer Bedeutung für den Sozialismus im Ganzen sei.

Mit solchem Zuspruch im Rücken geißelte Kurt Hager anläßlich der Eröffnung des Bauernkriegspanoramas von Tübke in Frankenhausen die großdeutschen imperialistischen Ambitionen der BRD. Ge

wisse Kreise in der BRD handelten wie die Feinde der Bauern damals.

Sechs Klassenfeinde, junge Leipziger, die an der traditionellen Montagsandacht in der Nikolaikirche teilgenommen hatten, befanden sich gestern noch in Haft (siehe nebenstehenden Kasten). Die Ostberliner Initiative „Frieden- und Menschenrechte“ hat die DDR-Bürger aufgefordert, sich für die Freilassung dieser sechs Inhaftierten einzusetzen. In einem gestern in Ost-Berlin bekanntgewordenen Protest heißt es: „Erneut erweist sich, daß der Staatsapparat in der krisenhaften Situation unseres Landes nur mit Sprachlosigkeit und auf die Kritik der Bürger ausschließlich mit Gewalt zu reagieren, bereit und in der Lage ist.“ In der DDR hat sich inzwi

schen eine weitere oppositionelle Vereinigung gebildet. Zwölf in der DDR bekannte Pfarrer, Wissenschaftler und Bürgerrechtler gründeten, wie am Freitag in Ost-Berlin bekannt wurde, eine „Bürgerbewegung Demokratie jetzt“. In einem „Aufruf zur Einmischung in eigener Sache“ treten sie für weitreichende Reformen im Lande ein. Zu den zwölf Unterzeichnern gehört unter anderen der Physiker Hans-Jürgen Fischbeck, der in den letzten Monaten verstärkt Veränderungen gefordert hatte. Die in dieser Woche gegründete Bewegung „Neues Forum“ hat großen Zulauf zu verzeichnen. Innerhalb weniger Tage hätten sich bereits einige hundert Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in die Mitgliederlisten einge

tragen.

Zum Auftakt der Synode des Bundes des Evangelischen Kirchenbundes in der DDR mahnte die Kirchenleitung „dringende Veränderungen“ in der DDR an. Dazu gehören nach Landesbischof Werner Leich, auch die offene Aussprache Aller „über den weiteren innenpolitischen Weg“ der DDR. Eine „offene Medienpolitik“ sei unbedingt nötig, ebenso „der Bericht über Erfolge und Mißerfolge, Leistung und Versagen und das vorbehaltlose Anhören der Bürger.“ Eine dringende Veränerung liegt nach den Wortend es Bischofs auch in einer „allen Bürgern rechtmäßig zustehenden Möglichkeit zu Reisen in alle Läner, einschließlich der ständigen Aussreise“.

Christian Semler