Swinging Metropolis

■ 44. Chat Noir

„Ich möchte gern Ihren Saal in der ersten Etage von Castans Panoptikum für mein neues Kabarett haben, Herr Generaldirektor.“

„Mit Freuden.“

„Sie müssen aber alles umbauen und eine Terrasse hinzufügen.“

„Gern.“

„Ich brauche auch Geld für Vorschüsse an meine Schauspieler, zumindest für die ersten beiden Monate, wenn alles wider Erwarten schief gehen sollte, Herr Generaldirektor.“

„Ja, natürlich.“

„Wie nennen wir das Kabarett? Es müßte etwas Zugkräftiges sein. Chat Noir ist zur Zeit die populärste Nachtbühne in Paris. So etwas gibt es noch nicht in Berlin. Also: Chat Noir.“

Dieses Gespräch findet 1905 zwischen dem generösen Generaldirektor Fink vom Pschorr-Bräu und Rudolf Nelson statt. Der eine hat Knete, der andere Ideen, Talent und einen inzwischen beachtlichen Ruf. Resultat der Unterhaltung sind 5.000 Mark Gründungskapital und das legendäre Chat Noir mitten im Zentrum der Friedrichstadt.

Aus dem Kabarett Hölle in Wien holt der Chef den Conferencier Fritz Grünbaum. Ein gewagtes Unternehmen, bei dessen Dialekt. „Mit leichtem Grausen“ denkt Nelson „an mißglückte Versuche, irgendeinen Berliner Humoristen aufs Donau-Publikum loszulassen“. Aber es glückt, Grünbaum kommt nicht nur an, er wird auch Texter vieler Nelson-Lieder. „Ich kann nicht mehr beurteilen“, erzählt er von Grünbaums erstem Auftritt an der Spree, „wer vor Angst mehr geschwitzt hat, er oder ich. Wir alle haben ihn ununterbrochen massiert, indem wir ihm schilderten, wie handzahm die Bestie Publikum in der so harmlosen Mark Brandenburg und wie leicht sie zu erobern ist, wenn irgendwas von weit her ist. Wenn auch an diesem Abend ein jeder von uns ausreichend mit sich selbst zu tun und sein eigenes Lampenfieber zu bekämpfen hat, so zittern wir alle um ihn - nicht nur um seinetwillen. Wenn er versagen würde... gar nicht auszudenken.

Die Monokel des Hofes und der Garde schauen verwundert auf das winzige Etwas. Will er ihnen alte Anzüge verkaufen? Oder ihnen einen Groschen zustecken?

Schweigen.

Hat er die Sprache verloren?

Ich kenne den Gauner. Ich habe ihn ja schon gesehen. Er mimt prächtig. Die Verwunderung braucht er.

Schweigen.

Endlich öffnet er seinen Mund und stammelt in 200prozentig Wienerisch: 'Ich bin so aufgeregt...‘

Damit hat er gewonnen. Das Publikum beeumelt sich, nicht nur über die offen zur Schau getragene Schüchternheit, sondern über alles folgende. Berlin hat einen neuen Publikumsliebling.“

Drei erwähnenswerte Damen wirken noch mit im Chat Noir. Da wäre Käthe Erlholz, die so ein bißchen als Claire-Waldoff -Pendant fungiert, schaut Nelson doch neidisch in die Potsdamer Straße, wo sein ehemaliger Kompagnon & Kumpel Schneider-Duncker im Roland von Berlin diese Bilderbuch -Diseuse engagiert hat. Aber Frau Erlholz erweist sich nicht nur als tauglicher Ersatz, macht die „kesse Ella“, schimpft auf die Männer, konstatiert, daß Liebe nur dem Teint schade und Gören der Figur, überdies geht sie bald mit Nelson durchs private Leben. (Die Waldoff wird er später überdies seiner Truppe einverleiben.)

Dann ist da noch Gussy Holl, zeitweilige Wienerin, die sich rühmen kann, dem dichtenden Schnorr-Experten Peter Altenberg ihr Herzeleid geklagt und ihm 500 seiner Lieblingszigaretten geschenkt zu haben. (Woraufhin der berüchtigte Cafehaus-Poet in einer Theaterkritik ihre „metall-schimmernden Augen“ besingt.) Hubert von Meyerinck erwähnt in seinen Memoiren, daß ihr Aussehen dem einer englischen Herzogin gleiche, und Tucholsky rühmt auf seine ureigene Art: „Frankfurt hat zwei große Männer hervorgebracht: Goethe und Gussy Holl.“

Und schließlich Lucie Berber, über die weit weniger nachhallende Stimmen existieren als über ihre Tochter. Was Wunder, gehört diese, Anita geheißen, doch geradezu symbolisch in die verruchten, versauten, grellen, hektischen, innen wie außen unruhigen zwanziger Jahre. Stilecht von Drogen gebeutelt stirbt die skandalumwabberte Nackttänzerin 1928 im Bethanienkrankenhaus zu Kreuzberg, grad‘ mal 29 Jahre alt.

Ihre spannende Kurzgeschichte ist nachzulesen in einem empfehlenswerten Buch von Haude & Spener, Berlin. Rosa von Praunheim hat sie verfilmt, im besten Lichtspiel, das ich von ihm kenne. Das exzessive Leben und Leiden von Anita und ihrem Partner Sebastian Droste läuft heute abend, 23 Uhr im ZDF.

Und um zu Nelson zurückzukehren: Kaum zu glauben und doch selbstverständlich tritt sie auch bei ihm auf, später, als er im heutigen Astor-Kino in der Fasanenstraße, Ecke Kurfürstendamm, das Nelson-Kabarett leitet. Als „ungehemmteste Person, der ich je begegnet bin“, bezeichnet er sie, „mit einem Ruf wie Donnerhall, doch hinreißend begabt. Als ihr Chef muß ich wie ein Löwenbändiger wirken.“ Sie tanzt auf einem von unten beleuchteten Tisch in der Revue „Wir stehen verkehrt“.

Norbert Tefelski