Tiefflug-Kosmetik

■ Eine Studie der US-Luftwaffe beweist: Die Nato-Doktrin läßt eine Reduzierung der Tiefflüge nicht zu

Mehrfach und zuletzt für Mitte September hat die Bundesregierung ein „Tiefflugkonzept“ angekündigt. Doch sie tut sich schwer damit. Der Grund: Doch eine offensive Nato -Strategie kann auf Tiefflüge nicht verzichten. Also greift man zur Kosmetik: 85 Prozent der Luftkampfübungen über der Bundesrepublik sollen ausgelagert werden, verlautet nun aus „Militärkreisen“ in Bonn. Doch nur 15 Prozent der Tiefflugübungen der US Air Force etwa fallen unter die Kategorie „Luftkampf“, die die Verteidigungsflüge des eigenen Luftraums meint. Die offensiven Operationen aber werden weiterhin auch im Tiefflug geübt.

Vom ursprünglich für den morgigen Dienstag in Bonn angesetzten und dann kurzfristig abgesagten Gespräch des Verteidigungsministers Gerhard Stoltenberg mit der „Kommunalpolitischen Arbeitsgemeinschaft gegen Tieffluglärm“ (siehe Interview) will man jetzt auf der Hardthöhe nichts mehr wissen. „Wurde niemals fest vereinbart, höchstens einmal als möglicher Termin erwogen“, erklärte Stoltenbergs persönlicher Pressereferent Dr. Wichler am Freitag. Die vom Rechtsvertreter der Bundesregierung, Anwalt Bräutigam, in einem Tiefflugprozeß in Lüneburg zu Protokoll gegebene Ankündigung, Bonn werde „das Tiefflugkonzept am 14. September vorlegen“, sei von Stoltenberg „nicht autorisiert“ gewesen. Der Minister habe sich „nie auf ein genaues Datum festgelegt und immer nur vom Spätsommer gesprochen“.

Auch dieser Termin ist nicht sicher. Denn erst zum Herbstanfang am 21. September trifft Stoltenberg seinen britischen Amtskollegen. Die Tagesordnung ist „vertraulich“, daß „auch über Tiefflüge gesprochen wird“, will Stoltenberg -Referent Wichler jedoch „nicht ganz ausschließen“.

Tatsächlich dürften sie das Hauptthema werden. Denn London zeigte bislang wenig Bereitschaft, auf die Bonner Wünsche nach Reduzierung der Tiefflugbelastung über der Bundesrepublik einzugehen. Dabei produziert die Royal Air Force (RAF) mit Abstand den meisten Tieffluglärm zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen. Mit 33.000 Einflügen in die sieben Tiefstflugzonen (bis auf 75 Meter Höhe) in Schleswig Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern lag die RAF im Jahre 1988 an der Spitze - weit vor der Bundesluftwaffe (15.000), der US Air Force (über 7.000) den niederländischen Piloten (6.000), den Belgiern (über 3.000) und den Kanadiern (378). Von den insgesamt 67.000 Tiefflugstunden, die die Nato -Alliierten über der Bundesrepublik absolvierten, entfielen auf die Briten und Amerikaner allein jeweils 14.000.

Bislang konnten sich Bonn und London nicht einmal auf eine Interpretation der gültigen Bestimmungen über die Ausweisung der sieben Tiefstflugzonen einigen. Für London sind die Bestimmungen Teil des Besatzungsrechtes und nicht verhandelbar. Die Briten möchten in den sieben Zonen weiterhin frei schalten und walten. Daran - wie am Widerstand bisher nicht betroffener Bundesländer - scheitert bislang Stoltenbergs Absicht, die sieben Zonen auf bis zu 49 auszuweiten, um die Belastung „gerechter“ auf die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik zu verteilen und den Protest in den hauptbelasteten Gebieten zu beruhigen. Was in Bonn hinter vorgehaltener Hand zwar als „Erpressung“ bezeichnet, offiziell aber nicht bestätigt wird: Die Briten verlangen für ein Entgegenkommen bei den Tiefflügen Bonner Zugeständnisse unter anderem in den umstrittenen Fragen der Panzerbewegungen bei Soltau in der Lüneburger Heide wie der gemeinsamen Entwicklung eines Radars für den Jäger 90.

Die USA wurden in den vergangenen Wochen von der Hardthöhe zwar als „mehr kooperationsbereit“ beschrieben. Doch tatsächlich verstecken sie sich in den Verhandlungen mit Bonn derzeit hinter Großbritannien und wollen Zugeständisse nur in dem Maße machen, wie die Londoner Regierung dazu bereit ist. Tatsächlich gibt es nach Untersuchungen der US Air Force keinen Spielraum mehr für eine Reduzierung der Tiefflüge - es sei denn, die Nato gäbe ihre gültige Luftwaffendoktrin auf, die das Üben von Flügen unterhalb des gegnerischen Radars unerläßlich macht. Dafür gibt es jedoch keinerlei Anzeichen. Im Gegenteil: Die Einführung neuer Flugzeuge wie des Jägers 90 oder der F-15 E „Strike Eagle“ wird in den nächsten Jahren eher zur Forderung nach einer Ausweitung der Tiefflüge führen. Nach ihrer Reduzierung um 45 Prozent in den Jahren 1985/86 lagen die US- Tiefflüge über der Bundesrepublik 1987 nur knapp zwei Prozent über dem für die Aufrechterhaltung der Einsatzbereitschaft von Piloten und Flugzeugen absolut notwendig erachteten Minimum. Wegen des dreiwöchigen Tiefflugbanns nach dem Absturz einer A-10 Maschine über Remscheid im letzten Dezember fiel das Tiefflugaufkommen im Jahr 1988 sogar bereits um 1,4 Prozent unter diese Marke.

Dies geht aus einem internen „Datenbuch der US Air Force zum Tiefflugtraining über der Bundesrepublik Deutschland“ vom Dezember 1988 hervor. Jeweils aufgeschlüsselt nach Flugzeugtypen sowie Zahl und Dauer der Einsätze für die Maschinen und ihre Crews listet das Datenbuch sämtliche 1988 erfolgten Tiefflüge der US Air Force über der BRD auf und vergleicht sie mit dem notwendig erachteten Minimum an Trainingsstunden und -häufigkeit. Die Bundesregierung erweckt den Eindruck, als seien ihr diese seit über acht Monaten vorliegenden und unter dem Freedom of Information Act der USA zugänglichen Informationen nicht bekannt. In einer Antwort auf eine kleine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Mechtersheimer und der Fraktion der Grünen will Hürland-Brüning, Staatssekretärin im Verteidigungsministerium, noch am 17. Juli die in der Datensammlung eindeutig belegte „Feststellung nicht bestätigen“, daß die Unglücksmaschine von Remscheid, „trotz ihrer Stationierung in Großbritannien die meisten Tiefflugeinsätze der US Air Force über der BRD absolviert“. „Flugstundenforderungen und -richtwerte beziehen sich auf das Jahr, es gibt keine monatsbezogenen Forderungen“, antwortet Hürland-Büning und erweckt damit den Eindruck, als gebe es die Möglichkeit, Tiefflüge auf einen Teil des Jahres, z.B. Manövertage zu konzentrieren und andere Zeiten zu entlasten. Wegen der notwendigen Regelmäßigkeit des Trainings vor allem der Piloten verlangt die US Air Force jedoch eine gleichmäßige Verteilung der Tiefflüge über das ganze Jahr und listet deshalb in ihrem Datenbuch die erforderlichen wie die 1988 tatsächlich geflogenen Einsätze und Stunden pro Monat auf. „Eine Unterbrechung von nur einer Woche“, heißt es, „verringert die Einsatzbereitschaft eines Piloten beträchtlich“.

„Nicht erkennbar“ ist für die Bundesregierung auch ein „Zusammenhang zwischen Flughöhe und der Wahrscheinlichkeit eines Absturzes“. Die US Air Force hingegen beziffert die Absturzwahrscheinlichkeit bei Flügen über 175 Fuß (52,5 Meter) auf ein bis zwei Prozent. Bei 100 Fuß (30 Meter) Tiefe, die zwar offiziell nicht in der Bundesrepublik, jedoch z.B. in Kanada erreicht wird, liegt die Wahrscheinlichkeit bereits bei 25 Prozent. Unter 100 Fuß ist die Wahrscheinlichkeit für die US Air Force „unakzeptabel hoch“. Die „angesichts gegnerischer Flugabwehrfähigkeiten und Absturzwahrscheinlichkeit beste Flughöhe“ liege bei 100 bis 300 Fuß (30 bis 90 Meter).

Die am Wochenende von dpa als angeblich mit den Alliierten bereits vereinbart gemeldete Verlagerung von „85 Prozent der bisher über der Bundesrepublik durchgeführten Luftkampfübungen auf See oder ins Ausland“ wird keineswegs zu der angekündigten „drastischen Verringerung“ der Tiefflugbelastung führen. Mit „Luftkampf“ werden auf Verteidigung und das Abfangen gegnerischer Flugzeuge über dem eigenen Territorium angelegte Übungen bezeichnet. In der subjektiven Wahrnehmung der betroffenen Bevölkerung wirken Verfolgungsjagden 75 Meter über dem Boden zwar besonders eindrücklich. Tatsächlich machen diese defensiven Luftverteidigungsübungen jedoch nur einen geringen Teil aller Tiefflüge aus. Von den Tiefflugübungen der US Air Force fielen 1988 nur rund 15 Prozent unter diese Kategorie, wie aus den Zahlen und Zeiten der Tiefflugeinsätze der verschiedenen Flugzeugtypen ersichtlich ist. Beim Hauptteil aller Tiefflüge der Nato-Verbände werden schon heute offensive Operationen geübt (Unterfliegen von Radar, Eindringen in den Luftraum des Gegners und Bekämpfung von Zielen in dessen Hinterland etc). Durch den Einsatz neuer Techniken wird die Bedeutung des Tieffluges für reine Luftverteidigungsaufgaben in den nächsten Jahren noch weiter zurückgehen. Der durch neue Techniken „gesteigerte Kampfwert“ beispielsweise des Phantomjägers erlaubt auch die zweite ins Auge gefaßte Maßnahme zur Verringerung der Tiefflugbelastung über dem Bundesgebiet, die Verlegung von Abfangübungen in größere Höhen. Mit neuer Elektronik und zielgenauen Raketen ausgerüstet, soll die Phantom gegnerische Flugzeuge künftig nicht nur von hinten oder von der Seite, sondern auch aus größeren Höhen heraus anvisieren und abschießen können.

Die angepeilte Verkürzung der Aufenthaltsdauer der Flugzeuge in den sieben 75-Meter-Zonen um 25 bis 40 Prozent wird zwar zu einer gewissen Entlastung, zugleich jedoch zu einem höheren Tiefflugaufkommen im Bereich zwischen 150 und 450 Metern führen. Denn um die derzeit viele Minuten pro Einsatz betragende Verweildauer im 75-Meter-Bereich zu reduzieren, sollen die alliierten Flugzeuge künftig erst kurz vor Erreichen des angepeilten Zieles von 150 auf 75 Meter heruntergehen. Die Bundesluftwaffe hat die Verweildauer ihrer Flugzeuge im Tiefstflugbereich bereits auf 90 Sekunden pro Einsatz beschränkt. Die Alliierten lehnten dies bisher als „zu wenig praxisgerecht“ ab.

Die ebenfalls ins Auge gefaßte Erhöhung des Exports von Tiefstflugstunden (75 Meter) der Bundesluftwaffe ins Ausland von derzeit 4.000 auf 6.000 ab 1991 wird zwar zu einer geringfügigen Entlastung der Bundesbürger, dafür jedoch zu einer stärkeren Belastung der Menschen in den vorgesehenen Exportregionen in Portugal, Sardinien und Goose Bay, Kanada, führen. Schon heute führt die Bundesluftwaffe zwecks Entlastung der Bundesbürger 19.OOO Tiefflugstunden in diesen Regionen sowie in Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Dänemark durch. Die Türkei fordert für den Import von mehr Tiefflugstunden derzeit noch mehr Geld, als die anderen Nato -Länder zu Zahlen bereit sind.

Mit Sicherheit bekanntgeben wird Stoltenberg eine Maßnahmen, die seit der Absturzserie des Jahres 1988 bereits weitgehend stillschweigend praktiziert wird und auch zu einer gewissen Beruhigung an der Tiefflugfront in den ersten neun Monaten dieses Jahres geführt hat: die Verringerung der Fluggeschwindigkeiten auf unter 450 Knoten, eine Grenze, unterhalb derer der plötzliche, schockartige Fluglärm weitgehend vermieden wird.

Andreas Zumach