Schicksalsfrage der Perestroika

Heute tagt das Plenum des ZK der KPdSU zur Nationalitätenfrage  ■ K O M M E N T A R

Schon die Begleitumstände des für heute anberaumten Plenums des ZK der KPdSU sind einmalig in der Geschichte der Sowjetunion. Kein Plenum wurde bisher so oft angekündigt und wieder verschoben wie das, was sich mit den nationalen und ethnischen Konflikten des Vielvölkerstaates befassen soll. Der Grund liegt auf der Hand. Kein Thema, nicht einmal der wochenlange landesweite Ausstand der Bergarbeiter, besitzt solch eine Brisanz wie die Nationalitätenfrage. Die gesamte Peripherie des Riesenreichs droht mittlerweile an diesem Problem zu zerbersten.

Die Hoffnung der Moskauer Strategen, die Lösung des Problems hinauszuschieben - einerseits sicherlich um es nicht in einer überemotionalisierten Atmosphäre angehen zu müssen, andererseits um Zeit zu gewinnen und die Konflikte regional einzudämmen - ist nicht aufgegangen. Seit Gorbatschows dramatischem Appell am 1. Juli über das sowjetische Fernsehen, in dem er dieses Problem zur Schicksalsfrage der Perestroika machte, ließ sich kein einziger Konfliktherd weder beseitigen noch befrieden. Im Gegenteil, die Brutalität der Auseinandersetzungen hat zugenommen, neben Georgiern, Aserbaidschanern, Armeniern und den Balten meldeten sich nun noch die Moldawier und Ukrainer zu Wort.

Die Partei hat zwar im August eine Plattform veröffentlicht, um die Diskussion zu eröffnen. Die jahrelange Sprachlosigkeit, selbst noch in der zugespitzen Situation der letzten Monate, hat aber die Ausgangsbedingungen für eine kompromißbereite Debatte unter Führung der Partei verschlechtert. Längst haben sich die Volksfronten der einzelnen Republiken zu Trägern nationaler Forderungen entwickelt, ihre anfänglich vorsichtigen und kompromißbereiten Schritte haben sich in dem vorherrschenden Vakuum der Hilflosigkeit des zentralen Apparates dynamisiert. Im Baltikum und Transkaukasus hat der Zustrom der Massen die Volksfronten zunehmend radikalisiert und ihre Führung unter Zugzwang gestellt.

Der Verhandlungsspielraum Moskaus schrumpfte zusammen. Mit dem Zugeständnis wirtschaftlicher Autonomie gibt sich hier keiner mehr zufrieden. Gefordert wird die völlige Unabhängigkeit, die Moskau aber nicht einräumen wird und auch nicht einräumen kann. Das wäre der Beginn des endgültigen Zerfalls und in der Folge auch ein gewaltsames Ende der Umgestaltung. Panzer würden wieder rollen. Daran kann im Westen keiner Interesse haben, auch nicht die flammendsten Befürworter jeglicher Unabhängigkeitsbestrebungen, die sich irgendwo im kommunistischen Machtbereich regen.

Klaus-Helge Donath