Die Alternative

Wiedervereinigungsrhetorik und Reformappelle schließen sich aus  ■ K O M M E N T A R E

Natürlich konnte in der Geschichte der DDR die SED-Führung ihre Veränderungsangst und ihren Immobilismus immer mit westlichen Äußerungen legitimieren. An diesem Punkt war sie bedenkenlos und ausdauernd zum Souveränitätsverzicht bereit. Inzwischen sind Überlegungen, welche Äußerungen in der panikbeherrschten chronischen Abteilung des Weltkommunismus nun Besinnung stiften könnten, historisch überholt. So ist denn müßig, sich den Kopf zu zerbrechen, wie opportun oder nicht-opportun die Wiedervereinungsfanfaren im jetztigen Augenblick hinsichtlich der SED-Führung seien. Sie praktiziert ohnehin nur das politische Überleben für den nächsten Tag und jedes Argument fürs Handgemenge wird ihr recht sein. Aber es ist bedrückend, daß nicht nur die Insassen der stalinistischen Geriatrie in Ost-Berlin sich nicht mehr in ihrer eigenen Abteilung zurecht finden, sondern auch hierzulande, gleichermaßen senil, alle Träume an deutschlandpolitischen Kaminen wieder hochgeholt werden. Politik mit dem Bauch, dem vollen und leeren!

Dabei sollte klar sein: gerade der gegenwärtige Augenblick, gerade angesichts der Massenflucht und der Motive der Flüchtigen ist es der denkbar falscheste Augenblick, von Wiedervereinigung zu reden und zugleich Reformen von der DDR zu verlangen. Wiedervereinigung und Reform schließen sich aus. Entweder nimmt man die Jugend, die über Ungarn flieht, ernst, konzediert ihnen einen tiefgehenden Dissens zum Regime, dann muß man sie auch als Boten einer anderen DDR, an der sie verzweifeln, ernstnehmen.

Die Forderung nach Reformen setzt, wenn sie einigermaßen ehrlich gemeint ist, auf einen sich öffnenden Widerspruch zwischen DDR-Gesellschaft und Regierungssystem, auf eine Nicht-Identität zwischen System und Bevölkerung. Sie impliziert die Unterstützung der Kräfte einer innenpolitischen Veränderung innerhalb der DDR. Diese Unterstützung hat aber wiederum zur Voraussetzung, daß der politische Primat vom Selbstverständis dieser Gruppen bestimmt wird. Und das gemeinsame Credo aller Reformgruppen in der DDR heißt auf jeden Fall, daß die DDR reformfähig ist und also ihre eigenen Existenzberechtigung hat. Die gegenwärtige Krise in der DDR als Chance für die Wiedervereinigung auslegen kann nur, wer die DDR nicht für reformierbar hält und mithin die Existenz von Reformgruppen für überflüssig. Insofern sollten die Wiedervereinigungsideologen sich beeilen, den Kontakt zu den Kirchen-, Menschenrechts- und Umweltgruppen schleunigst abzubrechen.

Mehr noch: die Wiedervereinigungsrhetoriker reproduzieren reziprok die These der SED-Führung von Identität von Bevölkerung und der führenden Rolle der Partei. Insofern können und wollen sie in der rapiden Dissoziation zwischen einer resignierenden, aufbegehrenden, fluchtbereiten Bevölkerung nur die Aufkündung des Staatsvolkes gegenüber der Staatlichkeit der DDR sehen. Das aber ist eine totale Umwertung der Wirklichkeit. Wenn es die von SED-Führung so gesuchte und immer wieder beschworene nationale Identität, die DDR-Gesellschaft aus eigenem Recht gibt, dann im Dissens.

Klaus Hartung