Deutsche Bundesbahn setzt auf Giftschiene

Herbizid-Spritzzüge im Wasserschutzgebiet / Gutachter: Negative Auswirkungen auf Bodensee / Verseuchtes Brunnenwasser hundertfach über EG-Grenzwert  ■  Von Holger Reile

Radolfzell am Bodensee: Von Mai bis September herrscht in der kleinen Stadt am westlichen Ende des Bodensees touristisches Gedränge. Auch prominente Zeitgenossen fühlen sich hier wohl: Martin Bangemann kommt seit Jahren zum Abspecken auf die nahegelegene Halbinsel Mettnau und schwingt zu nächtlicher Stunde das Tanzbein im „Cafe Hemdloch“. Und seitdem es dem Radolfzeller Oberbürgermeister Günter Neurohr gelungen ist, bei bundesweiten PR-Touren sein Städtchen als „mustergültige Umweltschutzgemeinde“ zu verkaufen, herrscht hier eitel Freude.

Doch kaum einen Steinwurf von der herausgeputzten Uferpromenade entfernt führen die Radolfzeller Gärtner Wilhelm-Friedrich und Franz-Herbert Gockenbach seit nunmehr fast zehn Jahren einen erbitterten Kampf um ihre Existenz. Ihren alten Betrieb, direkt neben den Bahngleisen gelegen, mußten die beiden Gärtner 1980 schließen. Genau hundert Jahre zuvor hatte Urgroßvater Christoph Gockenback den Familienbetrieb an gleicher Stelle gegründet. Heute grasen Schafe auf dem Gelände, die Beete sind längst überwuchert, an den alten Gewächshäusern nagt der Zahn der Zeit. „Los ging es eigentlich schon 1976“, sagt Wilhelm Gockenbach. Damals starben zuerst die Tomatenkulturen ab, dann gingen schlagartig Gemüse, Pflanzen und Tausende von Blumen ein. Die Gärtner waren ratlos. Neuanpflanzungen schlugen fehl, selbst der Austausch des gesamten Mutterbodens brachte nicht den gewünschten Erfolg: „Verkümmerte Triebe, vergilbte Stengel - da war nichts mehr zu machen“.

Billiger: die chemische Keule Zwei Jahre später bemerkte Wilhelm Gockenbach, daß die Platanen zwischen den Bahngleisen und dem Radolfzeller Seeufer ebenfalls schwere Schäden aufwiesen. Schließlich fiel der Verdacht auf die Deutsche Bundesbahn. Die Gärtner kamen dahinter, daß die Bahn vor allem im Frühsommer sogenannte Spritzzüge auf die Strecken schickt. Die Bahn soviel ist sicher - setzt entlang ihrer Gleiskörper seit mindestens 15 Jahren Unkrautvernichtungsmittel ein. Der Werbeslogan der von der Bundesbahn beauftragten Kölner Spritzfirma Lauff liest sich folgendermaßen: „Unkraut und Buscheinwuchs behindern die freie Sicht auf Bahnübergänge, greifen Brücken und sonstige Anlagen an.“ Zwar, das räumt die Firma ein, könne Unkraut auf den Gleisen auch mechanisch beseitigt werden, aber „problemloser und wirtschaftlicher ist die chemische Vegetationsgestaltung“.

Nicht ohne Grund befürchten die Brüder Gockenbach, daß sie selbst und andere vergiftet wurden, weil in unmittelbarer Nähe der Bahngleise sowohl der Brunnen ihrer alten Gärtnerei als auch zwei Brunnen der Stadt Radolfzell liegen. Die Unkrautvernichtungsmittel sind in das Brunnenwasser, mit dem die Gärtnerei bewässert wurde, eingesickert. Das Ergebnis einer Untersuchung des Konstanzer Wasserwirtschaftsamtes war damals schon unmißverständlich: Mit Spitzenwerten bis zu 147 Mikrogramm Bromacil pro Liter war das Brunnenwasser vergiftet.

Spätere Untersuchungen wiesen nach, daß die Konzentration an Bromacil immer noch beim Hundertfachen über dem Grenzwert lag, und er soll ab Oktober - so will es eine EG-Verordnung

-auf ein millionstel Gramm pro Liter festgesetzt werden. Ein Ermittlungsverfahren gegen die Bahn wurde Anfang 1982 eingestellt. „Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Schäden und den Spritzaktionen der Bahn“ könne nicht ausgeschlossen werden, sei „aber nicht mit einer zur Verurteilung genügenden Sicherheit nachweisbar“.

Im gleichen Jahr schickten die Gockenbachs der Bahn eine geharnischte Rechnung ins Haus: Ihre „vorläufige Schadensaufstellung“ belief sich auf 712.850 Mark. Die Bahn ging darauf nicht ein, schließlich reichten die Brüder beim Landgericht Konstanz Klage gegen die Bundesbahn und die Firma Lauff ein. Die Klage wurde abgewiesen, dagegen wiederum legten die Gärtner Berufung biem Oberlandesgericht in Karlsruhe ein.

Unverhoffte Unterstützung bekamen die hartnäckigen Kläger durch ein Gutachten von Professor Hartmut Lichtenthaler. Der Mitarbeiter des Botanischen Instituts der Universität Karlsruhe versteht nicht, „weshalb die Bundesbahn auf ihren Gleisanlagen das Zehn- bis 15fache der in der Landwirtschaft üblichen Dosis sprühen läßt“. Mindestens sechs weitere gefährliche Pflanzengifte neben Bromacil - darunter auch Atrazin, Diuron, MCPA, Picloram und Simazin - wurden im Laufe der letzten Jahre von der Bundesbahn auf Gleise und Schotterabhänge verspritzt. Lichtenthaler dazu: „Unfaßbar, unverständlich und auch von der Sache her in keiner Weise zu vertreten.“

Der Umstand, daß das Radolfzeller Seeufer nicht weit entfernt ist, verleiht der Angelegenheit zusätzliche Brisanz. Der relativ durchlässige Schotterboden unter den Gleisen trägt dazu bei, daß die giftigen Substanzen über das Grundwasser in den Bodensee gelangen. Lichtenthaler befürchtet „negative Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem des Bodensees“.

Die Bundesbahn hat sich bislang nicht geäußert, sie will unter allen Umständen eine öffentliche Diskussion vermeiden. Doch diese Rechnung wird nicht aufgehen: Bundesweit gründen sich Aktionsgemeinschaften gegen die Herbizideinsätze im Gleisbereich. Zwischen Flensburg und Konstanz mehren sich die Anzeichen, daß die Bahn seit Jahren ohne Rücksicht auf Mensch und Natur tonnenweise Herbizide verspritzt. In den siebziger Jahren befand sich darunter sogar auch das Vietnamgift „Agent Orange“, und das hat bei Kindern von GIs und Vietnamesen zu schwersten Erbschädigungen geführt. Da klingelt der Bundesbahn-Werbespot „Wer fährt tonnenweise Güter durch Zaunkönigs Reich, ohne es zu belasten“ geradewegs zynisch in den Ohren.

25 Kilo Herbizid verspritzt

Erst vor wenigen Wochen rauschte wieder ein Giftzug durch die Wasserschutzgebiete der Hochrhein-Städte Bad Säckingen und Wehr. Anschließende Proben wiesen die Wirkstoffe Diuron und MCPA nach. Zwar hat die Biologische Bundesanstalt den Einsatz von MCPA im Bereich von Wasserschutzgebieten verboten, aber der Hersteller erhob Einspruch gegen diese Verfügung, und somit kann die Bahn bis zu einer endgültigen Entscheidung weiter MCPA einsetzen.

Dem Waldshuter Landrat Dr. Bernhard Wütz ist nun der Kragen geplatzt und er forderte die Bundesbahn auf, zumindest in Wasserschutzgebieten auf den Einsatz von Herbiziden zu vernichten. Auch das baden-württembergische Umweltministerium scheint nicht mehr abgeneigt, gerichtlich gegen die Giftspritzer vorzugehen. Sauer stößt den Stuttgarter Beamten auf, daß die Bahn zum Teil widersprüchliche Aussagen macht, welches Gift genau und wieviel davon wo versprüht wird.

Allein auf der 17 Kilometer langen Bahnstrecke Stahringen -Radolfzell-Allensbach wurden Jahr für Jahr bis zu 25,4 Kilogramm Herbizidwirkstoffe auf einem Hektar Fläche verspritzt. Im Bodenseegebiet verläuft die Bahnlinie auf weiten Strecken direkt am Ufer. Auch zwischen Sipplingen und Überlingen - hier befindet sich das Pumpwerk der Bodenseewasserversorgung, das Millionen Menschen in Baden -Württemberg mit Trinkwasser versorgt - liegen die Gleise direkt am See.

Etwas verspätet hat sich nun auch der BUND zu Wort gemeldet und die Landesregierung aufgefordert, der Bundesbahn die Genehmigung für die Gifteinsätze zu versagen. Umweltverträgliche Alternativverfahren bei der Unkrautvernichtung auf Bahngleisen, zum Beispiel Heißdampf oder Infraroteinsatz, seien bislang noch nicht ernsthaft erprobt.

Der jahrelange Kampf der Radolfzeller Gärtner scheint sich langsam auszuzahlen. Das Gutachten von Professor Lichtenthaler ist ein vielbeachteter Anfang, mehrere Gemeinden und Landratsämter wollen das Treiben der Bundesbahn nicht mehr akzeptieren und gehen auf die Barrikaden. Um die Gebrüder Gockenbach zu unterstützen, haben sich viele Bürger im Landkreis Konstanz unter dem Stichwort „Öko-Prozeß“ zusammengeschlossen. Sie informieren die Bevölkerung und sammeln Geld für den nächsten Prozeß: „Es geht nicht nur um eine einzelne Gärtnerei, es geht um uns.“