Neue Fluchtbewegung aus der DDR-Provinz

Nach den Mittelschichten kommen nun junge DDR-Arbeiter in die Bundesrepublik / Vor allem junge Männer riskieren Kopf und Kragen bei der Überquerung der tschechisch-ungarischen Grenze / Andere wollen sich zu Hause engagieren  ■  Aus Budapest Erich Rathfelder

Ein wenig ruhiger ist es in Budapest geworden, zumindest was die Aufregung über die Flüchtlinge aus der DDR betrifft. Die Autobusse, die vom Lager in der Szarvas-Gabor-Straße am Nachmittag in das gleißende Licht des Altweibersommers in Richtung Westen rollen, werden zwar noch neugierig beäugt. Die überschäumende Hilfsbereitschaft jedoch ist etwas abgeebbt. Die Absetzbewegung der DDR-Bürger ist ja auch nicht mehr ein Testfall für die eigene Entwicklung: Wurde vor Wochen von konservativen Parteikreisen das Gerücht ausgestreut, Lebensmittelkarten würden wieder eingeführt und vor allem die freie Fahrt für Ungarn nach Österreich gestoppt, so haben die klaren Stellungnahmen der ungarischen Regierung für die DDR-Flüchtlinge die Gemüter der ungarischen Bevölkerung wieder beruhigt.

Mehr als 1.500 kommen jetzt wieder täglich in das Lager und bitten um Transport in die Bundesrepublik. Waren es am Anfang der Fluchtbewegung Mittelstandsfamilien, beherrschen jetzt ganz andere Leute die Szenerie. Jetzt sind es vor allem junge Männer, die das Risiko auf sich nehmen, die grüne Grenze zwischen der CSSR und Ungarn zu überqueren. Ganz ungefährlich ist das nicht: In der Nacht zum Montag sei ein junger Mann ertrunken, als er die Donau überqueren wollte, heißt es von Helfern des Malteser Hilfswerks. Andere, die mit Schlauchbooten kamen, haben es geschafft.

Noch etwas unsicher wirkt er, der Gerhard S., ein Dreher aus Thüringen, bevor er dem westlichen Journalisten Auskunft gibt. Immerhin jagen sich im Lager die Gerüchte über die Bespitzelung durch Stasi-Leute. Durch ein Maisfeld habe er robben müssen, bis er schließlich die Grenze nach Ungarn überqueren konnte. Die tschechoslowakischen Grenzsoldaten hätten dann kehrtgemacht. Und wer hätte schon vorher glauben können, daß die ungarischen Grenzsoldaten ihn gleich zum Bahnhof bringen und in den Zug nach Budapest setzen würden?

„Uns haben sie sogar die Fahrkarte bezahlt“, verwundern sich zwei Maschinenschlosser aus der Nähe von Inach, die mit dem Auto bis an die Grenze gefahren waren. In der CSSR würden viele Leute noch aus dem Zug geholt, nur weil sie für den Urlaub ungewöhnliches Gepäck oder gar ihre Zeugnisse bei sich hatten, und dabei ihre Absicht leicht zu erraten war.

Seit knapp einer Stunde erst im Lager, fällt die Spannung der Flucht nur langsam von den beiden Maschinenschlossern ab. Erst durch die Berichte über die Fluchtbewegung in Ungarn seien sie auf die Idee gekommen, es nun selbst einmal zu versuchen. Sind sie also doch von der Westpresse beeinflußt worden? „Alle haben bei uns übers Abhauen geredet, es war das Hauptthema, nur, wir haben es gemacht.“ Die meisten dieser Kurzentschlossenen sind junge Arbeiter, die drüben die Blüte des Arbeiter- und Bauernstaates sein müßten, der Stolz der Republik, mit Saft und Kraft und Risikobereitschaft. „Natürlich haben wir auch versucht, was zu verändern. Aber was kannst du denn auf dem Land machen, da ist nichts los. In den großen Städten, in Leipzig und Dresden, in Berlin natürlich, da gibt es ja noch Gruppen. Und so allein und isoliert ist überhaupt nichts drin.“ Wenn mal einer im Betrieb sich engagiere und einen Neuerungsvorschlag mache, verdienten letztlich doch nur andere daran: „Die sitzen hinter ihren Schreibtischen und entscheiden, was sie wollen. Als Arbeiter hast du eh nichts zu sagen.“

Ein junges Pärchen aus einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in der Nähe von Magdeburg fühlt sich gar vertrieben. „Wenn du mal was verändern wolltest, bist du an die Wand gerannt. Der Vorsitzende der LPG hat uns nur die schlechtesten Arbeiten zugeteilt und seiner Familie alles zugeschanzt.“ Nichts sei zu bewegen, vor allem, wenn der Vorsitzende auch noch ein hohes Tier in der Partei und in der Gemeinde ist.

Aus der Enge und Engstirnigkeit der Provinz fliehen auch im Westen viele Jugendliche. Die Stadt als Alternative? „Na ja, welche Städte hast du denn bei uns. Nach Berlin will ich auf jeden Fall nicht. Was wir wollen, ist ein ganz normales Leben, so wie die das im Westen haben. Unrealistische Erwartungen hegt sie nicht, die neue Generation der Flüchtlinge aus der DDR-Provinz.

Etwas verloren sitzt sie auf ihrem Koffer und wartet auf den Flughafenbus. Karin B. will das Flugzeug nach Leipzig nicht verpassen. Nach all den Gesprächen ist sie ein bißchen müde geworden. Sie, die mit ungarischen Freunden auch bei dem Flüchtlingslager war und lange Nächte mit sich rang, will dennoch jetzt zurück. Mit 23 Jahren ist sie mitten im Medizinstudium und will es auch beenden, und dann sind noch die Eltern. Die Freiheit hat für sie den Namen Budapest. „Das erste Mal in meinem Leben habe ich dauernd diskutiert und viele unterschiedliche Meinungen gehört. Es war eine wunderbare Zeit. Wenn ich nach Hause komme, werde ich mich engagieren. Vielleicht wird es doch noch was mit der Reform in unserem Land.“