Bagger schaufeln Tote in Massengräber

■ In Kurdistan sind die Scharmützel zwischen Guerilla und türkischer Armee längst in einen Krieg gegen die Bevölkerung übergegangen

Ömer Erzeren

Ein verrauchter, dunkler Kellerraum mit kleinen vergitterten Fenstern. Rund 50 Jugendliche glotzen Video. Gegen neun Uhr abends wird „Jugendvideo“ - so heißt der Kinoersatz in der kurdischen Stadt Sirnak - dichtgemacht. Die Kundschaft geht nach Hause. Kurze Zeit darauf werden die eisernen Rolläden der Geschäfte heruntergelassen. Scharfschützen, die sich im städtischen Park auf einer Anhöhe hinter Wällen postiert haben, vertreiben die letzten Fußgänger. Um 21.45 Uhr fahren die letzten Fahrzeuge - ein Militärkonvoi - an diesem Abend die Hauptverkehrsstraße entlang. Hinter Sandsäcken versteckt und die Maschinengewehre auf Bürgersteig und Häuserfronten gerichtet, hocken die türkischen Soldaten auf den Militärlastern. Wenn die Dunkelheit über Sirnak hereinbricht, sind die Straßen leergefegt. Selbst die Anti -Guerillaeinheiten der türkischen Armee haben sich zurückgezogen. In diesem Jahr wurde eigens für sie ein sechsstöckiges Gebäude fertiggestellt. Die sechs Stockwerke dieses höchsten Gebäudes der Stadt sind düster und unbewohnt. Des Nachts wird der Bunker aufgesucht.

Die trügerische Stille wird in der Nacht jäh unterbrochen: Maschinengewehrsalven, explodierende Handgranaten, Raketengeschosse und Leuchtkugeln. Eine Kuh, die sich verlaufen hat, blökt auf der Hauptstraße. „Wenn das so weitergeht werden demnächst auch Kühe in Sirnak erschossen“, scherzt der Hoteljunge. Menschen werden ohnehin erschossen. „Hoffentlich gibt es nicht soviel Tote“, sagt ein türkischer Kollege. „Mein Chefredakteur hat mir gestern am Telefon erzählt, daß ich unter zwei Toten nichts mehr zu melden brauche.“ In Sirnak, am Fuße des gewaltigen Cudi Massiva gelegen, herrscht Krieg - Bürgerkrieg.

Es begann im Jahr 1984. Der spektakuläre Verlauf des 15.August 1984 ist jedem in Sirnak in lebhafter Erinnerung. In der Nachbarstadt Eruk waren Telefon und Stromleitungen gekappt worden. Vom Lautsprecher der Moschee verlas ein Mann Verlautbarungen in Kurdisch, Arabisch und Türkisch. Männer mit Kalaschnikows verschafften sich Zugang zum Knast. Sieben Soldaten in der Gendarmeriestation wurden überwältigt. Die gesamte Munition per Lkw weggefahren. Die kurdische Guerilla PKK (Partiya Karkeri Kurdistan, Arbeiterpartei Kurdistans) hatte ihren bewaffneten Kampf für ein unabhängiges und freies Kurdistan begonnen.

Posthum folgte die Strafe der Armee. „Aus den Lautsprechern der Stadtverwaltung erging der Befehl, daß alle Männer zur Schule kommen müssen. Jeder sollte seine Waffe mitbringen und abgeben. Während die Männer in der Schule tagelang eingesperrt wurden, durchsuchte das Militär die Häuser. Meinen 80jährigen Großvater haben sie zwei Tage lang in der Schule gefoltert. Er konnte keine Waffe beibringen“, berichtet ein junger Mann, nachdem er sich vergewissert hat, daß keine Zivilpolizisten in der Nähe sind. In Sirnak nennt man nur die Namen der Toten, nicht der Lebenden: Er zählt sie auf, die vielen Opfer, die nach 1984 der Folter durch die türkische Armee zum Opfer fielen.

15.000 Einwohner - 20.000 Soldaten

Heute sind in dem 15.000 Einwohner zählenden Sirnak rund 20.000 Soldaten stationiert: 10.000 Soldaten zählt allein die Brigade, die ständig vor Ort ist. Aus der Westtürkei wurden ferner mehrere tausend Mitglieder der Anti -Guerillaeinheiten zusammengezogen. „Unsere Rambos“, verkünden stolz türkische Zeitungen. Hinzu kommen Gendarmerie und Polizei. Allein in der Region Botan, die von den PKK dieses Jahr zum Zentrum ihrer Aktivitäten erklärt wurde, sind rund 110.000 Soldaten stationiert.

„Der türkische Staat ist mächtig. Wir werden die Terroristen ausrotten“, hat Innenminister Abdülkadir Aksu unlängst erklärt. „Edel und entschlossen stehen die türkischen Streitkräfte als unzerstörbare Burg gegen die Verräter und Räuberbanden, die es auf die Einheit der Türkei abgesehen haben“, sprach der Ex-Putschist und jetzige Staatspräsident Kenan Evren. Seit Monaten verbreiten die türkischen Medien die amtliche Wunschvorstellung in ihren Schlagzeilen: „Cudi-Berge eingekesselt. Das Ende der Verräter ist nahe.“ „Die Großoffensive unserer heldenhaften Armee. Der Endschlag gegen die PKK ist nahe.“ „Die Verräter können sich einen Tod aussuchen: Kugeln oder Feuer.“

Die Realität sieht anders aus. Die PKK verzeichnet einen militärischen Erfolg nach dem anderen. Die Guerilla ist mittlerweile in der Lage, selbst in größeren Städten in der Region, wie Sirnak oder Hakkari, militärische Einrichtungen zu attackieren. 798 getötete Soldaten und Angehörige der Miliz gegenüber 35 toten Guerilleros im Zeitraum vom 15.August 1988 bis 15.August 1989 meldete die PKK auf einer Pressekonferenz in Bonn. Nach amtlichen Zahlen der Ausnahmerechtsverwaltung sind allein im Juli dieses Jahres 49 Soldaten getötet worden. Am 25.August veranstaltete Innenminister Aksu in Diyarbakir eine Pressekonferenz: „Die Ausnahmerechtsverwaltung hat im zweiten Jahr ihrer Einrichtung 238 Terroristen tot, 16 Terroristen lebend gefangengenommen. 130 Soldaten und 228 Bürger kamen ums Leben. In der ersten Jahreshälfte 1988 wurden in den Provinzen Hakkari, Mardin und Siirt 91 Vorfälle registriert, dieses Jahr waren es 201 Vorfälle.“ Kriegsbilanzen werden gegenseitig ausgetauscht.

„Angehöriger eines ländlichen und kriegerischen Volkes, das Kurdisch spricht und hauptsächlich Kurdistan bewohnt“, steht unter dem Begriff „Kurde“ im Random House College Dictionary von 1975. „Angehöriger einer kriegerischen Rasse in Kurdistan“, schreibt das Scribner Bantam English Dictionary von 1977. Als „Angehörigen des hochwüchsigen, ländlichen und räuberischen Volkes in Kurdistan“ hat das Oxford Concise Dictionary of the English Language einen Kurden ausgemacht. Kein Wunder, daß das kriegerische und barbarische Volk der Kurden, seit Jahrzehnten seiner kulturellen und sprachlichen Identität beraubt, die „Terroristen“ und „Verräter“ hofiert. „Die einheimische Bevölkerung unterstützt die Terroristen“, klingt es aus dem Munde des Regionalgouverneurs Hayri Kozakcioglu, der in der Region, die seit zehn Jahren mit Kriegs- und Ausnahmerecht regiert wird, mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet ist. „In verschiedenen Verstecken der PKK wurden 315 Säcke Mehl, 61 Säcke Zucker, 41 Säcke Weizengrütze, 40 Säcke Reis und 59 Säcke Makkaroni gefunden“, zieht er Bilanz. „Wer unterstützt sie also?“ Er beantwortet die selbstgestellte Frage in der Zeitung 'Hürriyet‘ vom 20.August. „Traditionell liebt es das Volk in der Region, Bewaffenten Unterschlupf zu gewähren. Es ist eine Geisteshaltung.“ In einer Tabelle hat das dienstinterne Handbuch Nr. 114 des türkischen Generalstabes die Vorteile der PKK aufgelistet: „Aufgrund von Sprache und Kultur können sie leicht einen Dialog zum Volk aufbauen. In dem Augenblick, wo sie ihre Waffen verstecken, sind sie in Kleidung und Sprache wie ein normaler Bürger der Region. Sie nutzen die Naivität des Volkes, um es in ihrem Sinne zu führen.“

Folteropfer in jeder Familie

Das Dorf Balveren, wenige Kilometer von Sirnak entfernt, ist vom Staat auch als Terroristendorf ausgemacht. „Mindestens einer in jeder Familie ist hier gefoltert worden“, sagt ein Bauer. Der 19jährige Salih Akyüz hat vor zwei Monaten zehn Tage in der Kaserne zugebracht: „Sie pferchten mich in eine Öltonne, 24 Stunden haben sie die Tonne in die Sonne gesellt. Sie schissen rein und schmissen brennendes Papier hinterher.“

Erst kürzlich wurden acht Dorfbewohner vom Militär aus ihren Häusern verschleppt. Acht bewaffnete PKK-Mitglieder seien in den Bergen gefaßt worden, hieß es dazu von amtlicher Seite. Demonstrativ wurde einer von ihnen, Mustafa Sidar, für kurze Zeit ins Dorf zurückgebracht. „Er konnte nicht mehr gehen. Zwei Soldaten stützen ihn“, berichten die Bauern. Abdullah Bayram ist auch seit Wochen verschwunden. „Warum haben sie deinen Mann weggebracht?“, frage ich seine Frau Nezahat, die die ganze Zeit stumm mit ihren Kindern in der Ecke sitzt. „Ich weiß es nicht, auch andere haben sie weggebraucht.“ - „Wie oft kam das Militär zu euch?“ „Ich weiß es nicht. Unzählige Male. Ich kann mich nicht erinnern.“

An den Winter 1987 erinnern sich jedoch alle Frauen. Drei Tage und drei Nächte wurden sie von Soldaten in die Grundschule eingesperrt. „Bis auf die Unterwäsche wurden wir ausgezogen. Sie schlugen auf uns ein. 'Bringt uns die Waffen eurer Männer.‘ Es gab kein Brot, keinen Gang zur Toilette. Wir mußten in die Hose machen.“ Seit diesem Tag sind fünf Jugendliche in die Berge gegangen - zur Guerilla, PKK. Eine Mittelschule soll demnächst in Balveren eröffnet werden. „Du wirst sehen, wenn es fertig ist, machen sie ein Militärlager draus“, sagen die Bauern.

Balveren ist in den vergangenen Monaten zum Symbol des Widerstandes geworden. Mit einer kurzen amtlichen Bekanntmachung hatte das Landkreisamt Sirnak Ende Juli den Dorfbewohnern die Nutzung ihrer Weideflächen und Felder untersagt. „Die 23. Gendarmeriebrigade, die in unserem Landkreis stationiert ist, hat das Amt darüber infomiert, daß außerhalb der Zentren Schießübungen durchgeführt werden sollen. Wir übernehmen keine Verantwortung für Leib und Leben.“ Dorfvorsteher Ibrahim Hakki Bayram war beim Landrat, um zu protestieren. „Solange Terroristen in den Bergen sind, darf der Staat verbrennen und bombaridern, was ihm paßt“, erhielt er zur Antwort. Zusammen mit anderen betroffenen Dörfern hatten daraufhin mehrere tausend Bewohner die Landstraße von Sirnak nach Uludere blockiert. Anwesende Journalisten und sozialdemokratische Abgeordnete verhinderten einen brutalen Militäreinsatz. Die Verfügung wurde zurückgezogen. Doch immer noch können die Bauern nicht zur ihren Feldern. Ein Bauer weist auf einen Bergrücken, der ungefähr 2.000 Meter vom Dorf entfernt ist. „Ich traue mich nicht hin. Wenn du erschossen wirst, heißt es, du seist ein Guerilla der PKK gewesen. Ich habe dort Wein angebaut und besitze Apfel- und Birnbäume. Alles wird kaputtgehen.“

Jeder Tote wird Terrorist

Alle vom Militär Erschossenen werden nachträglich zu Terroristen. „Vergangene Nacht um 18.30 Uhr wurde nahe Boganköyü bei Operationen unserer Sicherheitskräfte von PKK -Militanten das Feuer eröffnet. Im Feuergefecht wurde der Terrorist Zahit Salgut getötet. Ein Soldat, der beim Kampf verwundet wurde, wurde per Helikopter nach Siirt ins Krankenhaus gebracht“, meldet die Zeitung 'Bügun‘ am 15.August. Mit einem Genickschuß wurde der Hirte Zahit Sargut in den Bergen aufgefunden. Er hatte noch seinen Personalausweis bei sich. Die Guerilla trägt - wie könnte es anders sein - keine Personalausweise bei sich. Zum verletzten Soldaten gibt die Militärverwaltung folgende Auskunft: „Der verletzte Soldat kam - Dutzende Kilometer von der Leiche des Hirten entfernt - bei einem Vekehrsunfall zu Schaden.“

Nur in den seltensten Fällen haben Todesfälle ein juristisches Nachspiel. „Zwei nicht identifizierte Terroristen sind tot gefangen worden“, meldete das türkische Fensehen am 18.Juli. Tage später besucht der sozialdemokratische Abgeordnete Cumhur Keskin den Ort des Geschehens. Das Dorf Yoncali - jenes Dorf, wo einst der Kinofilm Eine Saison in Hakkari gedreht wurde. „Vor den Augen unserer Kinder haben die Soldaten Bünyamin und Sabri Orhan erschossen. Major Ahmet Korkmaz hat im Heu die Leichen verbrennen und anschließend einbuddeln lassen. Seymuz Orhan

-von ihm fehlt jede Spur - ist mitgenommen worden. Nach wochenlangen Bemühungen sozialdemokratischer Abgeordneter wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Bauern von Yoncali haben die verkohlten Überreste ausgebuddelt und versteckt. Sie haben Angst, daß die Soldaten, die fortwährend Razzien durchführen, sie entführen werden. Nur Fremden, denen sie vertrauen, zeigen sie die verkohlten Leichenreste.

„Sie haben selbst den Respekt vor den Toten verloren“, flucht ein Lebensmittelhändler in Sirnak. Seit Tagen hätten Arbeiter die Bäume des Zentralfriedhofs im Stadtzentrum gefällt, erzählt er. Befehl der Armee: „Terroristen könnten sich hinter den Bäumen des Friedhofs verstecken.“ Es ist der Friedhof „normaler Bürger“, die eines natürlichen Todes sterben. Die toten Terroristen oder solche, die dafür gehalten wurden, kommen ohnehin woanders hin. Weit ab des Stadtzentrums schaufelt ein Bulldozer die Leichen in Massengräber.

„2.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung“, so erzählt die Legende, „tötete der Schmied Kawa den Despoten Dehak, der mit Terror das Land der Kurden beherrschte. In des Herrschers Palast Ninova, hoch oben in den Bergen, entzündete Kawa ein großes Feuer, damit die freudige Nachricht über das Ende des bösartigen Herrschers das ganze Volk ereile.“ Seitdem wird jedes Jahr am 21.März das Feuer entfacht und gefeiert. Eine glückliche, freie Zukunft ohne Unterdrückung soll das Feuer verheißen.

Doch ein anderes Feuer brennt heute in den Cudi-Bergen. Mit Flammenwerfern und Brandbomben aus Flugzeugen abgeworfen, werden Wälder verbrannt. Drakonische Strafen wurden in Vergangenheit gegen Einwohner verhängt, die einen Baum fällten. Die Armee vernichtet in wenigen Stunden ganze Wälder: Thuja-, Eichen-, Pistazien- und Obstbäume. Mit der militärischen Strategie „der verbrannten Erde“ soll der Guerilla der Garaus gemacht werden. Das „Agent Orange“, das die US-Armee in Vietnam einsetzte, und der C-Waffen-Einsatz des Irak gegen die dortige kurdische Zivilbevölkerung dienen als Vorbild. „Vietnamesische Tunnel“, in denen sich die Guerilla versteckt hat, will die Zeitung 'Tan‘ in den Cudi -Bergen ausgemacht haben. Einer der ranghöchsten Militärs in der Region, der Brigadekommandant von Hakkari, General Altay Tokat, hat das Ungeheuerliche bei einem Treffen, zu dem die Dorfvorsteher eingeladen waren, am 12.August ausgesprochen. Öffentlich und ohne Scheu: „Nach meinem System könnten wir die in kürzester Zeit vernichten. Nach meinem System gedeiht dort in Zukunft weder Mensch, noch Gras. Wir haben bislang nur unsere leichten Waffen eingesetzt. Unser südlicher Nachbar hat mit einer einzigen Militäroperation die Menschen, die seit 50 Jahren Krieg gegen den Staat führten, ausgelöscht. Wenn wir wollen, können auch wir sie in derselben Art vernichten.“ Zwei Wochen später gab Brigadekommandant Altay dem türkischen Generalstabschef Necip Torumtay ein mehrstündiges Briefing über die aktuelle Situation. In einem dienstinternen Handbuch des türkischen Generalstabes - in Auszügen aus der Zeitschrift '2000'e Dogru‘ publiziert - ist der Einsatz von C-Waffen gegen „separatistische Bandenmitglieder“ ohnehin abgesegnet: „Anwendung von Giftgas“, „Unbewohnbarmachen durch den Einsatz speziell produzierter Insektenbrut“ ist im Abschnitt „Die Vernichtung der Tunnel“ zu lesen.

Private Mine ausgebombt

Die Unterstützung der Guerilla durch die kurdische Bevölkerung hat sich bis in die gehobenen Kreise des Militärs herumgesprochen. Mit Massenvertreibungn aus Bergdörfern versucht das Militär die Guerilla zu isolieren. „Fremden Mächten“ hatte das 500 Einwohner zählende Dorf Anilmis Unterschlupf gewährt, stellten die Herrschenden fest. Binnen weniger Wochen wurde das Dorf daraufhin von Militärs zwangsevakuiert. Sollten auch solche Maßnahmen keine Erfolge zeitigen, bleibt das Beispiel von Halabja der Einsatz von C-Waffen, Massaker - und schließlich - der Genozid.

Sirnak lebt von der Kohle. Überall unter der Erde liegt der schwarze Stoff, der Tausenden Brot und Arbeit verschafft. In den staatlichen Kohlewerken - einziger Arbeitgeber in der Region - verdingt sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Daneben gibt es unzählige kleine Minen. Die Grundstücke gehören Bauern. Mit Spitzhacke und Schaufel wird die Kohle gefördert. Esel oder Trecker transportieren die Kohle, die dann auf dem freien Markt verkauft wird. „Wir waren mit 150 Mann in die Mine Segire eingefahren, die Verwandten von uns gehört. Seit sechs bis sieben Jahren wird dort Kohle gefördert. Aus 20 Dörfern kommen Leute, um dort zu arbeiten. Gestern war Militär dort - 100 Soldaten mit Maschinengewehren. Sie schossen in die Luft, um uns zu vertreiben. Sogar auf die Esel und die Trecker haben sie geschossen“, erzählt ein Mann im Teehaus von Sirnak verzweifelt. Wir fahren zur Mine, die rund zehn Kilometer vom Ortskern entfernt ist. Der Minenzugang ist mit Erde und Steinen zugeschüttet. Die Minen wurden mit Dynamit kaputtgebombt. Die Geschosse sind noch sichtbar. „Alle Kohle gehört dem Staat, sagen sie. Wie soll ich jetzt meine Familie ernähren“, klagt der Mann.

„Unsere heldenhafte Armee bombardiert die Verstecke der Terroristen in den Cudi-Bergen“, triumphiert ein Reporter aus dem Kampfgebiet abends in den türkischen Fernsehnachrichten. Gezeigt wird eine türkische Flagge, die angeblich auf einem Zipfel des Cudi-Massivs weht. „Mehrere Terroristen sind getötet worden. Doch die Terroristen verstecken die Leichen ihrer Genossen. Unterdessen wurden die illegalen Minen geschlossen. Über die illegale Kohlenförderung hatten sich die Terroristen in Vergangenheit Einkünfte verschafft.“ Generalstabschef Necip Torumtay erscheint auf dem Bildschirm: „Jedermann, der diejenigen unterstützt, die mit Waffen gegen unsere nationale Existenz und Einheit kämpfen, ist als Feind anzusehen.“ Mit stummer, ernster Miene verfolgen die Männer im Teehaus die Nachrichten. Ein Junge kommt angelaufen und flüstert einigen etwas ins Ohr. Binnen weniger Minuten hat sich die Nachricht verbreitet. Die PKK hat die staatlichen Kohlewerke angegriffen. Ein Punktesieg mehr für die Organisation, die von großen Teilen der Bevölkerung ohnehin heroisiert wird.

Staatliche Waffen

für kurdische Stammesfehden

Die Nachrichten verbreiten sich wie ein Lauffeuer. „Hast du gehört. Die Organisation hat sechs Männer der Jirkis getötet. Recht geschieht es ihnen, den Leuten von Tahir Adiyaman.“ Tahir Adiyaman ist ein kurdischer Grundbesitzer, Haupt des Jirki-Stammes und Führer über mehrere hundert bewaffnete Männer. 1975 hat er sich auf dem Beschneidungsfest seines Sohnes mit dem Staatsanwalt und dem Landrat angelegt. Vor den Augen seines Stammes gab ihm der Landrat damals eine Ohrfeige. Sechs Gendarmen mußten danach sterben. Zehn Jahre lang hat der Stamm dem Staat den Krieg erklärt und sich in die Berge zurückgezogen. 1985 kommt es dann zum Händel. Der Vorfall von 1975 soll vergessen werden, keine Bestrafung folgen. Im Gegenzug erklärt Stammesführer Adiyaman, daß er mit seinen bewaffneten Männern gegen die PKK kämpfen will. Der türkische Staat, der im Rahmen der Assimilationspolitik notfalls mit Gewalt in die kurdischen Berge „Modernität“ und „Zivilisation“, wie es umschrieben wird, tragen wollte, ist heute Förderer von reaktionären Stammesorganisationen. Die Institution der Dorfmiliz sprich die staatliche Bewaffnung einzelner kurdischer Stämme, die der PKK feindlich gegenüberstehen - wurde vor drei Jahren ins Leben gerufen. 15.000 Dorfmilizen erhalten für ihre staatliche Tätigkeit das Doppelte des durchschnittlichen in der Region üblichen Lohnes. Die Bewaffnung von Kurden gegen Kurden hat den Staat bis heute 57 Milliarden Türkische Lira (rund 500 Millionen Mark) gekostet. Ein neuer Gewaltzyklus wurde in Gang gesetzt: Vergewaltigungen, Blutrache und Stammesfehden wurden mit Waffen ausgetragen, die der Staat zur Verfügung gestellt hatte; die Antwort der PKK ließ nicht lange auf sich warten, die Dorfmilizionäre wurden zu „Volksfeinden“ erklärt. Mit barbarischer Sippenhaft - Frauen und Kinder der Dorfmilizionäre wurden in der Vergangenheit ermordet versuchte die PKK der Dorfmiliz den Garaus zu machen.

Heute distanziert sich die PKK jedoch von solchen Aktionen. Die Milizionäre werden zwar weiterhin getötet, doch Frauen und Kinder bleiben verschont.

Die Einigung eines Teils der kurdischen Stammesführer mit dem Staat zwang die PKK - im Gegensatz zur kurdischen Nationalbewegung im Irak -, die traditionelle Stammesorganisation mit all ihrer reaktionären Ideologie selbst zum Ziel ihrer Angriffe zu machen. Neben dem nationalen wurde dabei ein soziales Moment ausgemacht. „Hört nicht auf die agas, die Stammesführer, die euch ausbeuten und ins Feuer schicken“, lautet ihre Losung. Schon allein die Teilnahme von Frauen am bewaffneten Kampf der PKK, bedeutete einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Ihren Stammesführern zum Trotz schlossen sich selbst Jugendliche der Jirkis der PKK an.

Propagandakrieg mit dem

Wort des Propheten

Gleichwohl ist in dem blutigen Krieg beiden Kriegsparteien jedes Mittel recht. Der laizistische türkische Staat - die Trennung von Religion und Staat gehört zu den Fundamenten des Kemalismus - betreibt mit Koransuren und Worten des Propheten Mohammed den Propagandakrieg. „Deine Pflicht als Moslem ist es, gegen die Separatisten zu kämpfen“, steht auf Flugblättern, die Helikopter und Flugzeuge über kurdischen Dörfern abwerfen. „Bismillahirrahmanirrahim“ - „Im Namen Gottes des Barmherzigen“ ist ein Flugblatt der sich „marxistisch-leninistisch“ begreifenden PKK überschrieben: „Betet für die gefallenen Helden der PKK.“

Vor dem Militärputsch 1980 war die PKK eine eher unbedeutende Gruppe. Andere linke Organisationen hatten weitaus mehr Einfluß auf die Bevölkerung. Von Abdullah Öcalan, dem kompromißlosen Führer der PKK, der schon damals für den bewaffneten Kampf eintrat, wurden sie damals jedoch erbarmungslos angegriffen. Er schätzte nicht die linken Gentlemen, die viel von der Befreiung des kurdischen Volkes reden, aber nicht zur Waffe greifen. Kritiker in den eigenen Reihen wurden mit stalinistischen Methoden - also Todeskommandos - abserviert.

Noch 1984, als die PKK mit ihrem spektakulären Überfall in Brug von sich reden machte, war ihr Einfluß relativ gering. Aus der Truppe von einst ist eine schlagkräftige Guerilla geworden, die durch ihren bewaffneten Kampf gegen die türkische Armee allerorts Ansehen genießt. „Soll ich in der türkischen Armee Militärdienst machen oder bei der Artesche Rizgariya Gelle Kurdistan (Volksbefreiungsfront Kurdistans, d.Red.), dem bewaffneten Arm der PKK“, fragt sich heute mancher Jugendliche in der Region. Der staatliche Terror trug viel dazu bei, das Umfeld der PKK zu stärken. „Die PKK steckt Schulen und Krankenstationen in Brand“, ärgert sich so mancher türkische Liberale.

In den Augen der Dorfbewohner ist die Aktion der PKK eine Wohltat: Schließlich benutzt das Militär Schulen und Spitäler als Munitionslager. „Bonbons, Kaugummi und Biskuit verteilen die Militanten der PKK“, meldet 'Hürriyet‘ in Berufung auf türkische Geheimdienstquellen. Selbst „Volksgerichte“ soll die Guerilla in den Dörfern eingerichtet haben, so die Zeitung. In der Muttersprache auf kurdisch - wird dort Recht gesprochen.

„Die PKK kommt ins Dorf. Sie sagen den Bauern: Weil du Kurdisch sprichst, wirst du beleidigt. In meinem Regime wirst du Kurdisch vor den Gerichten, dem Landrat und dem Präfekten sprechen. So gewinnen sie Sympathie“, stellt der Abgeordnete Nurettin Yilmaz von der regierenden Mutterlandspartei fest. Yilmaz, selbst kurdischer Abstammung, forderte jüngst gar ein kurdisches Programm im Fernsehen.

Jahrzehnte lang wurde die Existenz der Kurden in der Türkei geleugnet. „Bergtürken“ hießen sie in der offiziellen Sprachregelung. Seit Gründung der türkischen Republik hatte sich das Regime die Zwangseingliederung der Kurden auf seine Fahnen geschrieben. Immer wieder wurden Aufstände militärisch unterdrückt. Vertreibung und Terror folgten. In den Augen der türkischen Politiker war die Kurdenfrage stets nur ein ökonomisches Problem, das aus der „Unterentwicklung“ der südöstlichen Landesteile resultierte. Mehr Fabriken, mehr Schulen würden das Problem von allein lösen, hieß es. Heute sind Stellungnahmen wie die des Abgeordneten Yilmaz keine Seltenheit mehr. Der sozialdemokratische Oppositionsführer Erdal Inönü und der konservative Parteiführer Süleyman Demirel erklärten jüngst, daß sie nichts gegen die Eröffnung eines kurdischen Institutes an türkischen Universitäten einzuwenden habe.

Die PKK hat mit Waffen Fakten gesetzt. Auf der einen Seite diskutieren - erstmalig seit Gründung der türkischen Republik - Politmanager über das Recht der Kurden auf kulturelle Autnomie. Auf der anderen Seite stehen jedoch Drohungen, mit C-Waffen und Massakern das Kurdenproblem zu beseitigen. Die Strategie des türkischen Staates gegenüber den Kurden ist so desolat wie nie zuvor.

Für eine politische Lösung zu spät?

Der Zug ist abgefahren. Mit kleinen Zugeständnissen wollen sich die Kurden heute nicht mehr abspeisen lassen. Ein paar kleine Jungen - kaum älter als zehn - ziehen durch die Straßen des Nobelviertels Vilayet in Diyarbakir, dort wo die Techniker und Ingenieure der ausländischen Erdölfirmen zu wohnen pflegen: „Biji, biji PKK“ - Es lebe die PKK -, rufen sie lauthals. Die nationale Frage ist angesagt: Autonomie, ein unabhängiges Kurdistan.

Die Augen des Jugendlichen in Sirnak funkeln: „Auf der Straße nach Eruk hat die PKK unsere Flagge gehißt. Mit Waffen haben sie die Fahne verteidigt. Über 20 Stunden wehte sie.“ Ein Jahr zuvor hat das Militär einen verletzten PKK -Partisanen drei Tage unmittelbar vor dem Stacheldraht der Kaserne in einen Käfig gesperrt. Tote werden für alle sichtbar vom Helikopter auf das Gelände der Kaserne abgeworfen. Nicht Abschreckung, sondern Haß scheint das Ergebnis des Krieges zu sein. Die PKK hat die Köpfe der Menschen erobert - selbst ihren Aberglauben. Wie will eine Armee mit Kanonen gegen Legenden kämpfen?

„Ich bringe dich zu Zaides Grab“, flüstert ein alter Mann und beginnt zu erzählen. „Des Nachts sieht eine kinderlose Frau einen Traum. Zaide erscheint als Engel. Sie ruft die Frau zu ihrem Grab. Die Frau steht auf und wandelt zu dem unbekannten Ort. 'Nimm ein Stück von der Erde meines Grabes‘, spricht Zaide, 'doch fülle andere Erde auf. Ich will nicht ohne Erde bleiben. Bald wird dir dein größter Wunsch erfüllt. Du wirst Kinder haben.‘ Monate nach dem nächtlichen Ereignis wird die Frau schwanger.“

Heute ist Zaides Grab - ein Erdhaufen auf freiem Gelände ein Wallfahrtsort. Dutzende Frauen pilgern tagtäglich zu dem Grab. Bei Rheuma, Magenschmerzen wie auch bei ehelichem Streit soll ein Besuch an Zaides Grab helfen.

Wer ist Zaide? In Sirnak kennt sie jeder: „Sie war eine wunderschöne 16jährige Guerilla. Das türkische Militär hat sie vor drei Jahren in eine Falle gelockt und erschossen. Eine Woche stand ihre Leiche auf einem Lkw vor dem Polizeiquartier, bis die Militärs sie irgendwo verscharrten. „Zaide - wir glauben an sie.“