Zentralismus der Partei beim ZK-Plenum umstritten

Litauischer Parteichef Brasauskas plädiert für Gesamtstaat als Bund gleichberechtigter Einzelstaaten / Balten wehren sich gegen Vorwurf der Abspaltung / Wirtschaftliche Unabhängigkeit der Republiken wurde zugesichert / „Exzesse auf nationaler Basis häufig vorprogrammiert“  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Mit einem Tag Verspätung war die Rede des litauischen Parteichefs auf dem ZK-Plenum zur Nationalitätenfrage, wie die anderen zur Eröffnung am Dienstag gehaltenen Beiträge am Donnerstag nun auch in der zentralen Moskauer Presse zu lesen, nachdem sie schon am Mittwoch im Fernsehen ausgestrahlt worden waren. Brasauskas entwarf einen Katalog von Maßnahmen, der die kühnsten Lösungsvorschläge auf diesem Forum zusammenfaßte: „Ein Gesamtstaat als Bund gleichberechtigter Einzelstaaten entspricht einer höheren Entwicklungsstufe als eine Föderation.“

Ebenso wie sein estnischer Kollege Vajno Väljas verwehrte sich Brasauskas gegen den Vorwurf, damit eine Segregationspolitik zu betreiben: „Litauen ist an der Wirtschaft in der Union so interessiert, mit ihr politisch kulturell und menschlich derart verbunden, daß ein Abbruch dieser Bindungen tödlich wäre.“

Die von Ministerpräsident Gorbatschow beschworenen Separatisten und Segregationisten waren, wenn man den Worten glauben darf, auf diesem Plenum nicht anwesend. Dafür jedoch genug Vertreter nationaler Parteiorganisationen, denen in Zukunft ein Aufbau der Partei von unten nach oben vorschwebt, wobei die Parteiorganisationen der Einzelrepubliken autonom entscheiden dürfen sollen. Brasauskas: „Die kommunistische Partei Litauens hat sich durch gewaltige Schichten des Mißtrauens hindurch einen Platz im Bewußtsein des Volkes erobern müssen“, und: „Viele Kommunisten in Litauen fordern, daß der Grad der politischen und ökonomischen Selbständigkeit der Republik eine adäquate Selbständigkeit ihrer führenden Kraft, der kommunistischen Partei, erfordert.“

Es war die Parteifrage, die die Teilnehmer an dem Plenum eigentlich spaltete. Ist doch die straffe, zentralisierte Lenkung aller Parteifunktionen nach wie vor das Hauptinstrument, mit dem die Moskauer Zentrale die Unionsrepubliken am politischen Gängelband hält. Gleichzeitig beraubt dieser Umstand die Parteifunktionäre, die am Ort zu „Statthaltern“ abqualifiziert werden, ihrer politischen Glaubwürdigkeit. Ein zweite heiß diskutierte Frage dieses Plenums war, ob die Möglichkeit, einer Änderung der Grenzen von Einzelrepubliken, autonomen Gebieten und Kreisen innerhalb des sowjetischen Verbandes zulässig sein sollte. Über ökonomische Autonomie der Unionsrepubliken wurde nur noch beiläufig gesprochen, man diskutierte mehr die Frage des „wie“ als die des „ob überhaupt“. Die ökonomischen Zwänge sind auf diesem Gebiet offenbar überzeugend.

Dies bewiesen auch die Ausführungen des weißrussischen Parteichefs, der eine ansonsten streng konservative, dem „demokratischen Zentralismus“ der Partei verpflichtete Rede hielt: „In Weißrußland sind 288 Unternehmen direkt der Zentralregierung unterstellt, in ihnen arbeiten 726.000 Menschen oder 58 Prozent aller in der Industrie Beschäftigten, aber ihr Beitrag zum Budget unserer Republik beträgt lediglich 8,5 Prozent. Und die Leute bei uns sagen, da kannst du dich anstrengen, wie du willst, bei einer solchen Lage der Dinge wirst du es nicht schaffen, mehr Krankenhäuser, Dienstleistungsunternehmen, Läden oder alltägliche Konsumwaren herbeizuschaffen, denn fast die ganzen Erträge werden von den Unionsministerien geschluckt.“

Angesichts dessen stellte der Vorsitzende der staatlichen Planungskomission Jurij Masljukov, soeben zum Vollmitglied des Politbüros gewählt, eine Art Durchschnittsmodell vor, nach dem sich alle Republiken richten sollen und das die erste Etappe der Wirtschaftsautonomie schon für 1991 vorsieht. Mit ähnlichen Intervallen arbeitet auch eine Expertise, die der georgische Parteichef Gumbaridse zur Verwirklichung der Wirtschaftsautonomie Georgiens vorlegte. In seinen Thesen zum Nationalitätenkonflikt sagte er, es gäbe deutliche Anzeichen dafür, „daß die Exzesse auf nationaler Basis häufig vorprogrammiert sind und dem Ziel dienen sollen, eine offizielle Ausgangssperre durchzusetzen, eine Art Sonderverwaltung einzuführen und von den demokratischen Prinzipien und dem einmal eingeschlagenen Kurs abzuweichen“.