Stromstoß für Rot-Grün in Berlin

■ Erste ernsthafte Koalitionskrise im rot-grünen Berliner Senat: Die AL-Mitgliederversammlung stimmt gegen den Bau einer Stromtrasse, die im Senat beschlossen wurde / AL-Fraktion will jetzt den „Kurswechsel in der Energiepolitik“ mit der SPD neu verhandeln / SPD zieht nicht mit

Berlin (taz) - Was häufige Räumungen von besetzten Häusern und umstrittene Polizeieinsätze nicht schafften, bringt jetzt eine geplante Stromtrasse fertig: die erste ernsthafte Koalitionskrise seit dem Antritt des rot-grünen Senats in Berlin im Frühjahr. Die Alternative Liste (AL) hat am Mittwoch abend auf der Versammlung ihrer Mitglieder mit satter Mehrheit „den Bau einer Stromtrasse jeglicher Art“ abgelehnt, und ihre Senatorinnen, Abgeordneten und sonstigen Funktionsträger „verpflichtet, diese Entscheidung zur verbindlichen Grundlage ihres Handelns zu machen“. Die Al -Umweltsenatorin Michaele Schreyer reagierte mit den Worten: „Die Konsequenz dieser Entscheidung wäre ein Koalitionsbruch.“

Der Sprecher der AL-Fraktion, Stephan Noe, bestätigte, daß die Fraktion diesen Beschluß als verbindlichen Auftrag verstehe. Es sei jetzt mit der SPD über den „längst fälligen Kurswechsel in der Energiepolitik neu zu verhandeln“. Auch der AL-Parteivorstand geht davon aus, daß die AL-Mitglieder damit indirekt die Koalitionsfrage gestellt haben. Der SPD -Fraktionsvorsitzende Staffelt sprach in einer ersten Stellungnahme von einer „unverständlichen Entscheidung“ und einer „schweren Belastung“ und empfahl der AL, „daß der Diskussionsprozeß fortgesetzt wird“. Senatssprecher Kolhoff gibt sich noch gelassen: Von einer Koalitionskrise könne man doch erst dann sprechen, wenn die AL den Vorgang in den Senat einbringe. Doch Senatorin Schreyer will den zuständigen Wirtschaftssenator der SPD auffordern, den Bau der Stromtrasse zu untersagen. Die SPD hat mehrmals deutlich gemacht, daß sie diesen Schritt nicht machen wird. Damit landet das Thema im Koalitionsausschuß, der strittige Fragen klären soll, und dann muß sich die nächste Mitgliederversammlung der AL in etwa zehn Tagen grundsätzlich der Koalitionsfrage stellen.

Beim Zankapfel „Stromtrasse“ handelt es sich um eine Altlast des CDU-Senats: Das Energieversorgungsunternehmen BEWAG hatte mit der PreussenElektra im Sommer '88 einen völlig überdimensionierten Stromlieferungsvertrag geschlossen. Dafür wird die bereits bis Magdeburg fertiggestellte Trasse durch die DDR nach West-Berlin gebaut. Die PreussenElektra, eine Tochter der VEBA, verkauft gleichzeitig Strom an die DDR, den diese wiederum mit den Geldern der BEWAG für den „Stromtransit“ bezahlt.

Vor den Wahlen haben SPD und AL diesen Stromverbund einhellig abgelehnt. Der Haupteinwand lautete: Die Stromtrasse werde mit einer Höchstspannungsleitung von 380 Kilovolt gebaut und damit klar auf eine Politik des wachsenden Stromverbrauchs angelegt. Im Koalitionsvertrag zwischen AL und SPD wurde eine „Überprüfung“ und „gegebenenfalls eine Kündigung“ des Stromlieferungsvertrags vereinbart.

Ein von AL-Senatorin Schreyer und SPD-Wirtschaftssenator Mitscherling veranlaßtes Gutachten kam zu dem Ergebnis, daß der vorherige Senat mit der BEWAG juristisch kaum anfechtbare Bindungen eingegangen sei. Kritische Umweltjuristen bestätigten den AL-Funkti Fortsetzung Seite 2

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onsträgern diese Einschätzung. Allerdings hatten Michaele Schreyer und der für den Umweltbereich zuständige Abgeordnete Berger zusammen mit anderen Umweltexperten auch juristisch eine Möglichkeit entdeckt, die, wie sie sagten, die „verheerenden Auswirkungen“ der geplanten Stromtrasse in Berlin „minimieren“ könnte: Der BEWAG sollte die Auflage gemacht werden, in Berlin eine „kleinere“ Stromleitung zu verlegen, die zulässige Spannung auf 110 Kilovolt begrenzt. Diese „kleine Lösung“ wurde unter anderem von den Umweltexperten und AL-Mitgliedern Lutz Mez und Martin Jänicke, wie

von den im Parteivorstand vertretenen Mitgliedern des „Linken Forums“ unterstützt.

Dagegen gingen vor allem die AL-Mitglieder des von der Stromtrasse besonders betroffenen Bezirks Spandau sowie die Gruppe „Ökosozialistinnen in der AL“ in die Bütt. Begründung: Die BEWAG werde sich darauf nicht einlassen, sondern der AL sofort nahelegen, auch die „große Lösung“ zu akzeptieren, da sie „ein bißchen Naturzerstörung“ bereits akzeptiert habe, so das AL-Mitglied Renate Giese.

Doch über diesen einzelnen umweltpolitischen Sündenfall hinaus hatten viele an der Basis grundsätzlich genug von ständigen Zugeständnissen an „Sachzwänge“. Die Alternative Liste habe in dieser Koaliton „eine Kröte nach der anderen geschluckt:

Was jetzt von uns verlangt wird, geht an die Substanz“, meinte ein AL-Mitglied. Und: „Die SPD ist nicht die einzige Partei, die das Recht hat, Essentials aufzustellen.“

Diese „Es-reicht„-Stimmung hatte die SPD in den letzten Wochen durch ihr zögerliches Verhalten bei der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer mitprovoziert. Sie weigerte sich bisher beharrlich, für die Einführung des kommunalen Wahlrechts einen konkreten Termin festzulegen.

Erst am späten Mittwoch nachmittag schien die SPD den Ernst der Lage begriffen zu haben: Der Fraktionsvorsitzende Staffelt schickte an die SPD einen handgeschriebenen Brief an die AL-Fraktion, mit der Nachricht, daß die SPD bereit sei, das Gesetz bis zum 30. November

gemeinsam einzubringen.

urs