MILCHBOMBEN

■ Interview mit Mario Soro über seine Installation „Die Volksgesundheit oder die chilenische Wasserkraftwerkspolitik/Luftbrücke“

taz:Was hat die chilenische Wasserkraftwerkspolitik mit der Berliner Blockade zu tun?

Soro: In dieser Arbeit versuche ich, eine Analogie zu zeigen zwischen zwei verschiedenen Entwicklungsgeschichten: dem Marshallplan im Nachkriegsdeutschland und Kennedys „Allianz für den Fortschritt“ in Lateinamerika. Grundlage dieser Wirtschaftsprogramme war der Anschluß an moderne Technologien mittels Elektrizität. In Chile gab es bereits in den 30er Jahren einen sozialistischen Vorläufer dieser Politik durch die Frente Popular (Volksfront). Die Diktatur in Chile pervertiert dieses Energiesystem: Sie benutzt die gleichen Mittel für einen Mechanismus „öffentlicher Hygiene“, indem sie diese Energie an den Körpern der Bevölkerung anwendet. So etabliert sich durch die Folter ein neues Elektrizitätsnetz.

Dieses Netz, das sich in der Installation als Verkabelung zwischen Symbolen verschiedener Abhängigkeitssysteme - von moderner Technik zu politischer Repression - widerspiegelt, hat noch eine dritte Schaltstelle: die Religion. Wie sehen die Verbindungsstücke zwischen diesen Systemen aus und welche Art Strom fließt durch?

Alle Entwicklungspläne, egal welcher Couleur, beabsichtigen eine Heilung des sozialen Körpers von allen Elementen, die nach Rückständigkeit riechen könnten. Doch diese alten Tendenzen überleben in der Volksreligiosität. Es entstehen Formen von Besessenheit, die gegen die Heilung rebellieren. Letztendlich fördern genau diese Mechanismen aber den Fortschritt. Die technischen Objekte und Systeme verwandeln Kraftwerke in Pyramiden und Fernseher in Altäre. Ich verwende bei den Herz-Jesu- und Herz-Maria-Darstellungen die alchemistischen Symbole Blut und Milch, um sie umzudeuten, in einen neuen Zusammenhang mit Wasser- und Telefonleitungen zu stellen. Mit dieser Energie arbeite ich und versuche, in dieses System einzugreifen. Eine ähnliche Metaphorik entdeckte ich bei der Berliner Luftbrücke, als sich Blut in Milch, die Bomben der Amerikaner später in Milchrationen verwandelten.

Diese Zusammenhänge klingen sehr abstrakt.

In einem chilenischen Zeitschriftentext aus den 40er Jahren, den ich in meine Installation eingebaut habe, heißt es: In einer europäischen Stadt, die die gleiche Bevölkerungsdichte hat wie ganz Chile, wurde darüber nachgedacht, was das Grundnahrungsmittel sein könnte, und festgestellt, daß es die Milch ist. Das zum Text gehörige Bild zeigt ein kleines deutsches Mädchen, das zum Himmel aufblickt, zu Tausenden von Flugzeugen, aus denen Milchgläser herunterfallen. Dieses Bild ist aus einer Alphabetisierungszeitschrift, die unter die Bauern verteilt wurde. Die gleiche Luftbrücke zeigt sich heute in der Schenkung von Milchpulver durch die Vereinigten Staaten an Lateinamerika. Noch deutlicher war die Ambivalenz dieser Luftbrücken-Symbolik Milch/Bombe bei der Invasion von Santo Domingo durch die Vereinigten Staaten zu beobachten, als Soldaten auf Milchkisten sitzend herumschossen. Die Alternative für Lateinamerika war immer Kugeln oder Milch.

Interview: DoRoh