DORF IM ODERBRUCH

■ Auf den Spuren einer Kindheit zwischen gestern und heute

„Wer hier um die Sommerszeit seines Weges kommt, wenn die Rapsfelder in Blüte stehen und ihr Gold und ihren Duft über das Bruchland hinausstreuen, der glaubt sich wie durch Zauberschlag in ferne Wunderländer versetzt. Die Feuchte des Bruchs liegt dann wie ein Schleier über der Landschaft, alles Friede, Farbe, Duft...„

Nun dürfen wir also die Nacht miteinander verbringen, mein Dorf an der Oder und ich, Kind dieses Ortes, zufälliges Produkt der Geschichte, die „wenn Sage und Legende auch schweigen, um so lauter und vernehmbarer an dieser Stelle spricht„. Historisches Land, das Slawen, niederländische Deichbauern, Hugenotten, Kolonisten aller Fürsten Länder, preußische Grafen, schließlich rußlanddeutsche Flüchtlinge und in neuester Zeit sowjetische Soldaten beherbergte. Es wird auch den einen oder anderen Westberliner Reisenden Obdach geben. Zerstörtes Land, Friedhof Hunderttausender, über die Jahrhunderte immer wieder Schlachtplatz der Geschichte.

Der Dichter, der die Mark Brandenburg bereiste und uns seine Wanderungen in fünf Bänden hinterließ, schreibt, der König habe im Schloß des Dorfes Quartier genommen; das war vor 230 Jahren, nach der großen Schlacht. In der benachbarten Kreisstadt erinnert ein Mahnmal an 30.000 in den letzten Tagen des Krieges auf diesen Höhen gefallene Sowjetsoldaten.

„Perle des Oderbruchs“ hat man dich genannt vor dem letzten Krieg, als noch gräfliche Lebensart den Alltag prägte. Nun jammern sie; alle, die nach Fontane das Oderbruch durcheilten, beklagen den Verlust des „Poetischen“, der Schlösser, ja der Gaststätten, „nur die verdrießliche Prosa blieb“. Auch: Der Stall verfällt, in dem damals wenn nicht Poesie, so doch Rauchschwalben nisteten; den unzähligen Geschichten der Kindheit fehlen hier und da die Örtlichkeiten, um sie zu erinnern.

Aber noch immer hat Gültigkeit, was Fontane vor mehr als hundert Jahren beschrieb: „Nur Wiesen, nur grüne Fläche, dazwischen einige Kopfweiden; mal ein Kahn, der über diesen oder jenen Arm der Oder hingleitet, dann und wann ein mit Heu beladenes Fuhrwerk oder ein Ziegeldach, dessen helles Rot wie ein Lichtpunkt auf dem Bilde steht. Der Anblick ist schön in seiner Art, und wessen Auge krank geworden im Licht und Staub und all dem Blendwerk großer Städte, der wird hier Genesung feiern und dies Grün begrüßen wie ein Durstiger einen Quell begrüßt.„

Schon unterwegs, mit dem Zug Richtung Frankfurt oder per Auto auf der immer noch alleegesäumten alten Reichsstraße 1, ruht das Auge aus. Mohn- und Kornblumen umrahmen hier und da die Getreidefelder.

Was den Einheimischen als Mangel erscheint, Kopfsteinpflaster noch aus Kaisers Zeiten, knappes Material, die Häuser höher, schöner, glänzender herzurichten, kurz „all das fehlende Blendwerk großer Städte„, erscheint der lärm- und streßgeplagten Großstadtbewohnerin wohltuend „rückständig“.

Der Blick dann von der Höhe des Waldes, von den alten slawischen Wallburgen zur Oder. Ab und zu siehst du einen Lastkahn, als zöge ihn jemand wie Spielzeug durch die Landschaft. Natürlich stimmt es, „daß kaum ein Baum hier älter als dreieinhalb Jahrzehnte ist„. Aber junger Wald besteht erst mal aus Akazien, und in der Woche nach Pfingsten, wenn Heiratsmarkt ist und Tausende für zwei Tage im Dorf zusammenkommen, blüht der Wald weiß, und ein betäubender Duft liegt über dem Ort. Die eine oder andere Eiche ist übriggeblieben aus einer anderen Zeit. Eine 500jährige bewacht die uralte „Frankfurter Straße“, die noch aus einer Zeit stammt, da das Oderbruch Moorland war und die Verkehrswege über die Höhe geführt werden mußten.

Übers ganze Jahr findest du im Wald selten Gewordenes: Schneeglöckchen als erste Frühlingsboten, Schlüsselblumen, Maiglöckchen, Adonisröschen. Auch Pilze sind rar geworden; aber manchmal findest du Morcheln an feuchten Stellen, immer da, wo abgestorbene Ulmen den Weg weisen. Aber Vorsicht, es ist die Zeit, da die Wildschweine Junge haben, und der Berichte, wie man nur knapp einer angriffslustigen Bache entging, gibt es viele.

Und manchmal, wenn es so lange trocken war wie in diesem Sommer, und der Wald gesperrt ist wegen Waldbrandgefahr, dann fährst du mit dem Fahrrad an seinem Saum entlang; und du weißt aus Erzählungen, daß es hier zwei Dörfer gab und große Güter, und davon ist nur noch eine verfallene Steinmauer zu sehen. Alles wächst neu und für die, die das Alte nicht kannten, ist es auch schön. Du biegst irgendwann ab in Richtung Oder und fährst an einzelnen Höfen in der Ebene vorbei. Viele wurden im Krieg zerstört, andere nach der Kollektivierung verlassen. Aber die, die noch bewohnt sind, sind gekrönt von Storchennestern; das Klappern ist an einem heißen Sommertag das einzige Geräusch. Ab und zu ein Kuckuck oder tirilierende Lerchen. Dann bist du am Oderdeich; bewachsen mit langen Alleen von Feldahorn und dicken Eichen, deren Wurzelwerk die Böschung stabilisiert. Und du kannst am Deich entlangfahren, kilometerweit, und wenn dir heiß wird unterwegs, kühlst du dich im Strom. Aber das ist verboten. Die Grenze zu Polen verläuft auf der Deichkrone, wenngleich in Landkarten die Grenze in der Mitte des Flusses eingezeichnet ist. Aber du kannst ja auf dem Deich sitzen und auf das teilweise überflutete Vorland blicken, und du wirst ganz ruhig. Nur die Frösche machen Lärm, aber das ist auch schon alles, was laut ist; Enten und Möwen fliegen hinüber und herüber, scheren sich um keine Grenze. Ein paar Angler, sei's mit Genehmigung oder ohne, gehen ihrer beschaulichen Tätigkeit nach. Der Fluß, seit zweihundert Jahren durch Deiche befriedet, fließt in keinem Betonbett; kleine Sandbänke bieten Rastplatz für schwatzende Möwen und stolze Schwäne. Und die Gräser und Margeriten und Lichtnelken auf dem Deich duften, und wenn das Gras gemäht ist, legst du dich hin und atmest nur noch den Heugeruch. Und die Luft steht still.

Du fährst weiter, vorbei an Hunderten von Heckenrosenbüschen. Im nächsten Ort wirst du am „Anglerheim“ vorbeikommen; da gibt's manchmal Eis, bestimmt aber Kaffee; und Dampfer legen an, mit denen du ein Stück der Reise, die schon Fontane machte, nacherleben kannst. Doch die Fahrkarten kauf‘ vorher in Frankfurt und erkundige dich, wann die Schiffe fahren. Es ist halt alles etwas bürokratischer als zu Fontanes Zeiten.

Am Abend fahre ich wieder am Wald entlang, und ich werde im alten Forsthaus übernachten; die Nachtigallen schlagen anders als im Tiergarten, und ich werde die ganze Nacht das Fenster auflassen.

Sigrid Bellack

Zitate aus: Theodor Fontane, „Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Oderland“, München 1960

Wolf Jobst Siedler, „Wanderungen zwischen Oder und Nirgendwo“, Berlin 1988