Die Juden - Polens

■ Eine Ausstellung in Krakow und anderes zum Thema „Juden in Polen“ Beobachtungen vom Juni dieses Jahres

Ruth Jacobs

Der Gedankenstrich der Überschrift „Die Juden - Polens“ (auf polnisch „Zydzi - Polscy“) steht für den Riß in der polnisch -jüdischen Beziehung. Für die Juden ist heute das Jüdische mehr im Vordergrund, das Polnische mehr im Hintergrund, schreibt Marek Rostworowski im Katalog der gleichnamigen Ausstellung, die bis Ende September in der Nationalgalerie Krakow noch zu sehen ist. Nicht mehr also wie im Plädoyer Julian Tuwims, 1944 geschrieben, My, Zydzi polscy - „Wir polnischen Juden“. Das polnische Judentum wurde durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg effektiv ausgerottet.

Vor zehn Jahren wäre die Ausstellung wegen der antijüdischen Politik der kommunistischen Regierung undenkbar gewesen. Sie ist nicht nur die größte und wichtigste unter den wenigen Ausstellungen überhaupt, die in letzter Zeit in Polen zu diesem Thema stattgefunden haben, sondern hat auch einen anderen Ansatz: Sie spricht durch das Medium der Kunst. Gemälde, Graphiken, Plastiken - über 1.400 Exponate, beinahe alle aus polnischen Sammlungen - erzählen die Geschichte der Juden in Polen von den ersten Anfängen im Mittelalter bis hin zu den „Fantomen“, die 1945 zurückkommen und das zerstörte Zuhause suchen. Der Inititator, Marek Rostworowski, Kunsthistoriker und Leiter des Czartoryski -Museums, Krakow, hat es sich nicht leicht gemacht: Die Besucher werden aufgefordert, sich mit antisemitischen Karikaturen, mit den Juden als „Teufeln“ und Verdammten auf Kirchengemälden, mit dem Thema Ritualmordbeschuldigung und Pogrom überhaupt auseinanderzusetzen. Die romantische und danach die symbolistische Malerei betonen wiederum die Gemeinsamkeiten zwischen „Israel“ und Polen. Zunächst von polnischen Malern gesehen - für religiöse Juden galt sehr lange das Malverbot - stehen erst ab dem 19. Jahrhundert die Bilder jüdischer und polnischer Künstler nebeneinander: Gottlieb, Malczewski, Lesser, Witkiewicz... Da besteht kein Zweifel: mit der Auslöschung jüdischen Lebens wurde ein Bestandteil polnischen Lebens gleichzeitig vernichtet.

„Was soll das Thema?“ fragte eine junge polnische Journalistin Mark Rostworowksi vor der Eröffnung. „Ich war sehr überrascht und wußte nicht, was ich ihr antworten soll“, sagte er. „Aber da sie noch jung ist und kein jüdisches Milieu kennt, weil es das in Polen nicht mehr gibt, versuchte ich ihr zu erklären, daß es sich hier um Menschen handelt, die mit uns zusammenlebten und vor unseren Augen systematisch umgebracht wurden. Ihre Kultur ist viel älter als die polnische, und das Judentum ist außerdem die Quelle des Christentums. Ich wollte ihnen zumindest - und es ist das Allerwenigste - meine Dankbarkeit zeigen für alles, was sie uns jahrhundertelang gegeben haben. Das schulden wir den Toten, den eigenen Toten.“

Am Eingang brennen Kerzen in den traditionellen Kerzenleuchtern, zerbrochene Grabsteine liegen vor einem alten Toraschrein, oben hängen riesige Fotos der zerstörten jüdischen Friedhöfe Polens.

„Die Ausstellung ist gut angekommen, immer besser“, sagt Rostworowski, „sie wird von im Ausland lebenden Juden besonders gelobt.“ Und in Polen? Kritische, antisemitische Töne? Nur einige, meint er, böswillige Stimmen, aber ganz unbedeutend. Die Ausstellung war seine Idee, sein Konzept, beschäftigte ihn und die drei MitarbeiterInnen zweieinhalb Jahre lang, kostete ihn einen Herzinfarkt und mehrere Krankenhausaufenthalte.

Sie ist aber auch im Zusammenhang einer bestimmten Entwicklung in Polen zu verstehen: einer „Renaissance“, eines Interesses an jüdischer Kultur, an allem „Jüdischen“, auf staatlicher Ebene wie auch privat. Das Judentum ist seit Anfang der achtziger Jahre im Lande salonfähig. Auf staatlicher Ebene ist das bekannteste Beispiel die Feier des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Stanislaw Krajewski, nach dem Krieg in Warschau geboren und aufgewachsen, erklärte mir, warum er als polnischer Jude diese Feiern meidet: „Wir gingen hin, das war 1981, noch vor Verhängung des Kriegsrechts, weil wir dachten, alles ist jetzt normal. Neben mir standen während der Zeremonie Vertreter der einzigen öffentlichen antisemitischen Vereinigung Polens: Grunwald. Ich war so schockiert, ich beschloß, nie wieder daran teilzunehmen, solange ich zu den Leuten auf der offiziellen Seite kein Vertrauen haben kann. Da sieht man auch, wie sie Juden und Symbole benutzen. Das Symbol 'Ghettokämpfer‘ eignet sich besonders dafür. Jeder kennt es, jeder möchte der Opfer 'gedenken‘, weil Gedenken nichts kostet und sogar etwas bringt. Das ist unangenehm und beleidigend.“

Inwiefern wird die Ausstellung - an der er beratend mitwirkte - auch politisch mißbraucht? „Mark Rostworowski wollte den jüdischen Beitrag zur polnischen Geschichte und Kultur zeigen, ich habe zu ihm großes Vertrauen, und es ist ihm wirklich gelungen. Sicher werden sich bestimmte Leute freuen. Ob jemand Kapital daraus schlagen will, weiß ich nicht. Das kann gut sein, aber das Risiko muß man eingehen. Die ursprüngliche Idee hat in diesem Falle mit der offiziellen Linie nichts zu tun.“

Das Interesse an jüdischer Thematik ist heute meistens echt. „Man möchte wissen, erfahren, was man früher ignorierte“, sagt Mark Rostworowski, „man möchte die Juden kennenlernen.“ „Die Juden stehen oft für die positive polnische Vergangenheit“, meint Stanislaw Krajewski, „und auch für viele Polen, besonders wegen Israel, für eine Verbindung mit der 'Außenwelt‘, mit dem Westen.“ Kürzlich fand die Premiere des Theaterstücks eines polnischen Dramatikers (Jerzy S. Sito) statt; „Sluchaj Izraelu!“ (Höre Israel), über das Warschauer Ghetto, basiert auf den Tagebüchern von Adam Czerniakow. Die interessierten Polen meiden aber die staatlichen jüdischen Kulturvereinigungen, warten lieber auf die Genehmigung privater Initiativen. So wurde die Gründung einer polnisch-israelischen Freundschaftsorganisation - der Vorsitzende ist der Schriftsteller Andrzej Sczczypiorski - im Juni begrüßt. Die Restaurierung ehemaliger Synagogen geht mangels Geld nur schleppend voran. Früher gab es vierzig Synagogen in Krakow, heute, wenn man durch Kazimierz, das altjüdische Viertel, läuft, erkennt man vier. Aber ein Buch über das Viertel wird auch bald erscheinen: The World that is no more von Stanislaw Karkowski, der dort arbeitet. „Ich kann die leeren Häuser von Kazimierz nicht mehr ertragen“, sagte eine nichtjüdische Polin, die ich an der Ausstellung traf. Sie freut sich auf das Projekt von Jerzy Kosinski: die Gründung eines jüdischen Kulturzentrums, das nun im Gespräch ist. „Die Polen wohnen ungern in Kazimierz“, sagt der Schriftsteller Kornel Filopowicz. „Sie sagen, nachts geistern die Juden durch die Straßen.“

Trotzdem ein weiterer Aspekt: Man ist um ein gutes Aussehen im Ausland bemüht, man begrüßt jede Investition. Das jüdische Informations- und Touristenbüro „Our Roots“ (Unsere Wurzeln), das seinen Sitz in Warschau hat, lädt im Ausland lebende Juden (ehemalige polnische oder sonstige) zur Investition in Polen ein. Aber wie steht es denn heute mit dem berüchtigten polnischen Antisemitismus? Die Juden sind exotisch, Kornel Filopowicz nickt ironisch, jetzt, da kaum mehr welche da sind. Es ist „schick“, einen Freund oder eine Freundin zu haben, der oder die ein wenig jüdisch ist, erzählte mir eine Lehrerin, aber unter ihren Studenten fehlt es nicht an antisemitischen Bemerkungen und an Schimpfwörtern über Schwarze und Ausländer im allgemeinen. „Hier kommen wieder die Juden aus Warschau“, begrüßen Leute auf dem Land ihre dunkelhaarigen, nichtjüdischen polnischen Nachbarn, die dort die Wochenenden verbringen.

„Und wie wars mit den Juden früher, erzähl'“, fordert man die alte Tante auf. Sie schließt die Augen, streckt den kleinen Kopf mit dem braunen Pony nach vorn, legt los: „Jeder Gutsbesitzer hatte seinen jüdischen Lieferanten, der Mirsinksi hatte einen Milchmann, er war ein Shylock, er konnte einen übers Ohr hauen.“ Sie redet weiter, immer noch mit geschlossenen Augen, wie in Trance. „Shoah war ein gemeiner Film, meine Freunde, die Schimanskis, haben Juden in ihrer Wohnung versteckt. Ja, und ich erinnere mich an die Uni 1937/38, da durften sich die jüdischen Studenten nicht auf die Bänke setzen, sie mußten stehen. Sie waren Zionisten, sie studierten Landwirtschaft und bereiteten sich auf Auswanderung vor. Und wie mies gingen die Juden, die mit den Russen kämpften, mit den polnischen Soldaten nach dem Krieg vor, sie haben sie gefoltert.“

„Im Nachkriegspolen brachten viele die verhaßte kommunistische Regierung mit den Juden in Verbindung“, sagt Stanislaw Krajewski. „Sogar einer der Leiter von Solidarnosc sagte einmal: 'Wir müssen alle Juden an der Regierung loswerden.‘ Aber damals waren keine Juden an der Regierung, so daß es sich wirklich wie Verfolgungswahn anhörte. Und das ist typisch für den Antisemitismus heute in Polen: abstraktes Denken, Feinde nennt man 'Juden‘. Trotzdem möchte ich betonen, daß Solidarnosc Antisemitismus ablehnt, ihn verurteilt als etwas Böses, was bekämpft werden muß, vor allem als ein Manko der Regierung und der kommunistischen Propaganda. Auch wenn niemand die eigenen Gefühle und Haltungen allzu gern analysiert, haben die wichtigsten Leute ganz energisch Stellung bezogen, und das war für mich damals sehr wichtig.“

„Antisemitismus in Polen war nie organisch durchgreifend“, sagt Kornel Filopowicz. „Wir lebten alle zusammen, die Juden gehörten mit zu unserem Alltag. Es ist alles übertrieben. Die Polen sind zwar keine Engel, aber die anderen Völker sind auch keine.“ Die Deutschen, die Russen, die Franzosen, die Engländer. Lanzmanns Film Shoah hält er für einseitig und unfair. „Viele Polen setzten ihr Leben aufs Spiel, um Juden zu helfen. Und wenn man erwischt wurde, war KZ das Mindeste.“

Viele Polen sind um ein gutes „Image“ sehr besorgt: Selbst der kitschige Film Sophies Entscheidung, der erst letztes Jahr in Polen lief, wurde als „Verleumdung“ und antipolnisch beleidigt abgelehnt.

Der alte Feind der polnischen Juden war immer der Klerus. „Es gibt Vorurteile, die nicht in einer Generation verschwinden werden“, meint Mark Rostworowski. „Gut, die Juden haben das Evangelium nicht akzeptiert, das ist ihre Sache, aber wir Christen können das Alte Testament nicht einfach abtun. Man spricht von einer Annäherung, und es liegt an der katholischen Kirche, die Initiative zu ergreifen. Die Christen entfernten sich von ihrem jüdischen Ursprung, nicht umgekehrt, und die Kirche muß jetzt den Ausgleich schaffen. Nicht mehr wie früher, um die Juden zu bekehren, sondern um sie anzunehmen - als Juden.“ Die Audienz letztes Jahr mit Papst Johannes Paul II. in Warschau war ein Schritt in diese Richtung. „Auf der intellektuelle Ebene bewegt sich etwas“, sagt Stanislaw Krajewski, „aber der Weg vom Vatikan zu den Herzen der normalen Kirchgänger ist lang. Junge Leute zeigen heute viel guten Willen, sie wollen wissen, wollen verstehen. Durch Interesse und Sympathie, durch ihre Verurteilung des Antisemitismus versuchen sie manchmal, die Vergangenheit zu verdrängen, sie drücken sich vor der Auseinandersetzung. Das ist eine natürliche Reaktion und menschlich verständlich, aber das macht die Sache zu einfach. Aber es gibt wiederum auch Menschen, die bereit sind, die Konfrontation auf sich zu nehmen, sich der harschen jüdischen Kritik zu stellen, allerdings nur auf einer individuellen Ebene, auf keinen Fall wird es zu einer Massenbewegung, weil die Suche nach der Wahrheit meistens schmerzlich ist. Da kaum Juden in Polen leben, rücken diese Probleme immer weiter weg, werden ohnehin zunehmend intellektuell und abstrakt. Trotzdem könnte ein engerer Kontakt und die Möglichkeit des christlich-jüdischen Dialogs zur Verständigung führen.“

Die Krise um das Karmeliterinnenkloster in Auschwitz sieht Krajewski als Kampf um ein Symbol. In seiner Besprechung des Kirchendokuments von Stanislaw Musial schildert er beide Seiten des Konflikts. Es sei zwar bedauerlich, daß auf katholischer Seite die Arbeiten für den neuen Klosterbau noch nicht begonnen hätten, der laut der Vereinbarung in Genf in ein Zentrum für Studium, Information und Gespräch integriert werden soll. Die Verzögerung ist nach polnischen wirtschaftlichen Verhältnissen - die im Westen unvorstellbar sind - teilweise verständlich. Es ist tragisch und ironisch, schreibt Krajewski, daß die Katholiken, die das Kloster am Gelände von Auschwitz errichten wollten, gerade diejenigen sind, die das Erinnern an die Vernichtung von Juden und Polen verewigen wollten. Sie haben Einwände von jüdischer Seite weder erwartet noch verstanden. Es waren die staatlichen Behörden, nicht die katholische Kirche, die jahrzehntelang das spezifisch jüdische Martyrium in Auschwitz in Schweigen hüllten. Er nennt die Panikreaktion der Juden im Ausland, daß es sich hier um ein Komplott der Kirche handele, Auschwitz zu „christianisieren“ und die Juden zu „verdrängen“, absurd und ungerecht. Er zitiert Musial, der schreibt, daß es ein Novum in der Geschichte der katholischen Kirche überhaupt sei - bloß die Juden haben es noch nicht begriffen -, daß die Bereitschaft vorhanden ist, auf ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen und das Kloster zu verlegen.

Juden und Christen sollten in dieser Sache zusammenkommen, meint Krajewski. Er plädiert für eine Zusammenarbeit und keine Verhärtung der Fronten. Gerade aufgeschlossene Katholiken wie Musial und andere könnten helfen, zum Beispiel die notorisch mangelhafte Aufklärung über die spezifisch jüdische Bedeutung von Auschwitz endlich zu vervollständigen.

Wie das nun weitergeht und welche Folgen es für die dort lebenden Juden haben wird, müssen wir abwarten. Nach offiziellen Zahlen leben heute nur noch 5.000 bis 6.000 Juden in Polen (im Vergleich zu den dreieinhalb Millionen vor dem Krieg). Das sind die Zahlen eingetragener Mitglieder der winzigen Gemeinden und Vereinigungen. Andere halten sich zurück, ob aus Angst oder aus Überzeugung, und niemand weiß, wieviele sie sind. Aber: „Seine Familie war schon in der vorletzten Generation getauft“, höre ich immer wieder. Der Schriftsteller S., die Malerin X., der Schauspieler Z.... und Piotr Skrzynictki, der brillante Krakower Kabarettist ist auch ein Jude. Das wissen inzwischen alle.