Ein zweifacher Mord

■ Zu Bernhard Wickis Verfilmung des Joseph-Roth-Romans „Das Spinnennetz“

Christiane Peitz

Zuerst dachte ich, das war doch viel später. Pogrome, Massaker, Waggons voller Juden - all das gab es erst in den 30er Jahren. Der Film jedoch spielt 1918 bis 23, da hat wohl einer die Jahrzehnte durcheinandergebracht.

Aber alles ist wahr. Schon Anfang der Zwanziger Jahre gab es Plünderungen und antisemitische Ausschreitungen im Berliner Scheunenviertel, wo die Ostjuden lebten. Schon damals gab es Streiks und Aufstände von polnischen Landarbeitern, und die deutschen Freikorps schossen zurück. Schon damals wurden viele Ostjuden in Konzentrationslager verschickt. Sie hießen tatsächlich so, bloß Gaskammern gab es noch keine. Wer diesen Film gesehen hat, kann nicht mehr behaupten, der Faschismus sei über Nacht gekommen.

Joseph Roth hat in dieser Zeit über diese Zeit vor dem Faschismus seinen ersten Roman geschrieben: „Das Spinnennetz“ erschien 1923 in der Wiener 'Arbeiterzeitung‘, in Fortsetzungen; die letzte Folge am 6. November, am 8. und 9. November putschten Ludendorff und Hitler in München. Roth nimmt vorweg, was später tatsächlich geschah.

Nun hat Bernhard Wicki Roths Vision verfilmt und damit zugleich die Historie. Er selbst saß 1939 als „Politischer“ im KZ Sachsenhausen; was Roth nur ahnte, hat Wicki am eigenen Leib erlebt. Der Film muß also beidem gerecht werden: Der Dichtung und der Wahrheit. Er muß die Fiktion in die historische Pflicht nehmen. Das ist das Problem. Wicki scheint es sich nicht einmal gestellt zu haben. Sein Film bleibt pure fiction und das, obwohl der Regisseur pedantisch genau rekonstruiert hat. Alles ist wahr, aber nichts stimmt. Ein Gesicht in Großaufnahme deutlich sieht man die Schminke am Haaransatz. Das im tschechischen Pilsen nachgebaute Ghetto - und auf dem Ladenschild steht „Margarete Greenberg“. Vielleicht wurde gleichzeitig eine amerikanische Serie gedreht. Das sind nur die Kleinigkeiten. Der Nazi

Der Protagonist heißt Theodor Lohse. Im Ersten Weltkrieg war er Leutnant, danach ist er Jurastudent und Hauslehrer beim reichen Juden Efrussi. Er ist ein Nichts, und er will wieder wer sein. „Der planlose Entschluß: mächtig zu werden“, heißt es bei Roth. Lohse begehrt Efrussis Frau. Er will reich sein wie der Jude, um sich selber „einen Theodor Lohse kaufen“ zu können. So gerät er in die Fänge der rechtsradikalen Geheimbünde. Er weiß gar nicht, wie ihm geschieht.

Theodor Lohse ist Ulrich Mühe, Schauspieler am Deutschen Theater in Ost-Berlin. Glattes Gesicht, saubere Fingernägel, exakter Scheitel. Ein schüchterner Musterknabe. Noch guckt er wie Jagdwild, später wird er selbst Jäger sein. „Er war der europäische junge Mann: national und selbstsüchtig, ohne Glauben, ohne Treue, blutdürstig und beschränkt. Er war das junge Europa“, schreibt Roth.

Jäger und Jagdwild in einer Person, in den Augen von Ulrich Mühe ist das zu sehen. Aber nur da und nirgends sonst: in Wickis Film ist Lohse zuerst der dumme, kleine Hauslehrer und später der eiskalte Nazi. Niemals ist er beides zugleich. Der Filmtitel ist falsch: Dieser Theodor Lohse verfängt sich in keinem Netz und hält sich dabei für die Spinne. Ulrich Mühe hätte es spielen können. Der Jude

Sein Gegenspieler heißt Benjamin Lenz. Ein Jude aus Lodz, ein Doppelagent und Kollaborateur, einer, der immer ein klein bißchen klüger, schneller, verschlagener ist als die andern. Er haßt Europa, sein studierter Bruder arbeitet an einem Sprengstoff, mit dem man es in die Luft jagen kann. So steht es im Roman, im letzten Kapitel. Bei Wicki wird Lenz am Ende von einer Lokomotive zermalmt.

Benjamin Lenz ist Klaus Maria Brandauer. Der Hut tief im Gesicht, der Hemdkragen offen, das Jacket zerknittert. Ein verschlagener Profi, ein Drahtzieher hinter den Kulissen, selten begreift man, welche Finte er gerade wieder ausheckt. Aber immer führt Wicki uns vor Augen, wie gut der Jude ist. Dieser Benjamin Lenz will nicht Europa in die Luft sprengen, sondern seinem Bruder helfen. Er kollaboriert nur aus Liebe zur Familie. Brandauer hat extra jiddisch gelernt (für sein „Sprachprofil“ wurde sogar die Berliner Jüdische Gemeinde zu Rate gezogen), so sympathisch war er noch nie auf der Leinwand. Richtig zum Liebhaben. Man sieht der Figur regelrecht an, daß Wicki Angst hatte, sie könnte antisemitisch erscheinen. So bietet er uns die Identifikation mit dem Opfer frei Haus. Brandauer hätte den Lenz auch zwielichtiger spielen können. Die Kulisse

Joseph Roth hat seinen Roman sehr schnell geschrieben, in kühlen, knappen Hauptsätzen. Die keineswegs so goldenen Zwanziger im Berlin der Weimarer Republik beschreibt er mit fast hemingwayschem understatement.

Bernhard Wicki hat fünf Jahre lang am Drehbuch gearbeitet, die Dreharbeiten in Berlin und in der Tschechoslowakei dauerten über drei Jahre (zum Teil, weil der 70jährige Wicki sehr krank war). Nach einer langen Finanz-Odyssee wurde Das Spinnennetz schließlich von Provobis, dem ZDF, dem österreichischen, italienischen und spanischen Fernsehen, der Kirch-Gruppe und dem Prager Filmexport gemeinsam produziert. 15 Millionen DM legten sie hin für 100.000 Meter belichtetes Filmmaterial, für 195 Minuten Kino, das sind mehrere TV-Folgen in der Endfassung, für über 5.000 Statisten und jede Menge Stars: Brandauer, Mühe, Armin Müller-Stahl, Corinna Kirchhoff, Agnes Fink, Peter Roggisch, Andrea Jonasson, Elisabeth Endriss. Und dazu noch Hark Bohm als Dada-Performer mit Beuys-Hut und Alfred Hrdlicka als Anarcho-Künstler. Ein Mammut-Projekt: Roths kurzer Roman ist schneller gelesen als der Film gesehen: Wickis Spinnennetz ist ein epischer Bilderbogen, in dem nichts fehlt: Arbeitslosigkeit, Inflation, Hunger, politisches Chaos. Aber all das bleibt Kulisse, pittoresker Hintergrund. Man sieht nicht eigentlich den Hunger, nur wohlgenährte Statisten, die nichts zu essen haben. Der Mord

Der Höhepunkt ist ein zweifacher Mord. Lohse hat seinen Freund Günther verraten, der, in Lohses Beisein, von seinem Vorgesetzten Klitsche ermordet wird. Daraufhin ermordet Lohse Klitsche. Bei Roth tut er es im Affekt und aus Kalkül, er will Klitsches Stelle einnehmen. Bei Wicki tut er es nur im Affekt. Im Roman ist zunächst in einer expressionistischen Passage von Lohses Blutrausch die Rede. Dann die Mordsequenz: „Klitsches Schädel krachte ein wenig. Weißgrauer und blutiger Brei quoll aus seiner Stirn. Irgendwo hackte wieder der unermüdliche Specht, zwitscherte der schüchterne Vogel...“ Die Brutalität liegt in der Beiläufigkeit dieser Zeilen.

Wicki dagegen hat den Mord mit cineastischer Leidenschaft inszeniert. Wie von Sinnen schlägt Lohse mit der Spitzhacke auf Klitsche ein, das Blut spritzt an den Birken hoch, dem Täter auf Hemd und Gesicht, er trieft vor lauter Rot, die Musik spielt immer bedrohlicher, es hört gar nicht mehr auf. Irgendwann, vielleicht im kurzen Moment des Schwenks auf den Vogel (der dramaturgisch keinen Sinn macht, aber er steht ja im Roman), kippt die Szene um: Die Verfilmung der Gewaltorgie wird selber eine, der Film selbst geilt sich auf wie Lohse am Blutrausch. Und wenig später liegt der Mörder mit Rahel im Bett. Zur Gewalt gehört Sex: Lohses Hände sind immer noch verschmiert. In Roths Roman faßt Lohse Rahel Efrussi nicht einmal an. Die Schwulen

Wicki will den autoritären Charakter zeigen und welche Faszination er damals ausgeübt hat. Er will keinen trockenen Nachhilfeunterreicht in deutscher Geschichte erteilen, sondern die sinnliche, die erotische Seite der Angelegenheit vor Augen führen: die Ästhetik des Faschismus. Er tut dies in bester antifaschistischer Absicht. Aber er hat vergessen, sich über seine eigenen ästhetischen Mittel Gedanken zu machen.

Selten habe ich soviel spiegelnden Lack, glänzendes Leder, schweißnasse Haut, schwüle Erotik und blinde Gewalt, Jagdszenen und Männerbünde gesehen wie in diesen drei Stunden. Wicki zeigt nicht die Faszination, er erliegt ihr. Er führt die Männerbünde nicht vor, er hat sich ihre Ästhetik zu eigen gemacht. Aber das Schlimme ist nicht das eigene Affiziert-Sein, sondern daß es nicht reflektiert wird.

Die These von der verdrängten Homosexualität als einer der Ursachen für den Nationalsozialismus ist nicht neu, auch Roths Roman handelt davon. Noch als unbedeutender Hauslehrer lernt Lohse den Prinzen Heinrich kennen, in dessen Regiment er im Krieg gedient hatte. Er braucht den Prinzen für seine Karriere und der braucht ihn als Knaben für eine Nacht. Lohse merkt zunächst gar nicht, was der Prinz von ihm will. Wir wissen es längst: Unmißverständlich hat die Limousine mit den beiden Männern eine Knabenstatue umrundet. Und die Kamera hat nochmal extra draufgehalten. Peter Roggisch spielt den schwulen Prinzen, in einer hinreißenden kurzen Szene, mit geilem Blick aus hinterhältigen Äuglein, feuchter Zungenspitze und nervös tatschenden Wurstfingern. Ein Mann, der so mächtig ist, daß er es sich leisten kann, eine lächerliche Figur zu machen. Lohse vergeht vor Scham. Er wehrt sich, aber flieht nicht, die beiden prügeln sich, die Spannung steigt. Schnitt, der andere Morgen. Kein Sex unter Männern. Die Bettgeschichten zwischen der hysterischen rotlockigen Rahel (was für ein Klischee!) und dem nicht mehr ganz so schüchternen Lohse präsentiert Wicki dagegen hübsch lang und heftig wie im Softporno. Prüde ist er nur bei den Männern. Homosexualität bleibt ein Tabu - Das Spinnennetz liefert den unfreiwilligen Beweis.

Lohse betrachtet seine Nacktheit im Spiegel. Er klatscht sich das kalte Wasser auf die Haut, egal ob nach Sex oder Gewalt, jedesmal wäscht er sich. Weg mit dem Dreck. Wicki liebt dieses Ritual, sein Film zelebriert diese Waschungen ich weiß nicht wie oft. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Die Polen

Wicki nimmt es mit der Wahrheit genau. Die Pommerschen Weizenfelder waren damals höher als ein Meter, die Weizenfelder heute sind nur noch halb so hoch. Also wurden vier Hektar Weizen angepflanzt, die zwar nicht rechtzeitig reif waren, aber ein bißchen gelbe Farbe tat es auch. Ein Pedant also, ein Genauigkeitsfanatiker. Ist nichts gegen einzuwenden. Die Szene im Weizenfeld: auf der einen Seite die streikenden polnischen Landarbeiter, Frauen mit starken Armen und schweren Brüsten, blauäugige Mädchen mit blonden Zöpfen, sie sehen aus wie die gesunden Deutschen auf den Nazi-Gemälden. Auf der anderen Seite das Freikorps aus Berlin, die Männer sicheln das Korn. Die Gruppen kommen sich näher, die Spannung steigt. Schließlich steht der Mann mit der Sense vor dem Mädchen mit den Zöpfen. Im Hintergrund brüllt der Gutsbesitzer: „Weiter ernten!“. Wird der Mann das Mädchen niedermetzeln? Schnitt, nächster Tag. Wicki wußte mal wieder nicht weiter. Er kann Spannung erzeugen, aber halten kann er sie nicht. Die Genauigkeit der Requisite wird von der Ungenauigkeit der Dramaturgie Lügen gestraft, die Wahrheit des Detail von der Unwahrscheinlichkeit des Ganzen. Alles ist wahr, aber nichts stimmt, das ist keine Kleinigkeit. Das Pogrom

Auch das Berliner Scheunenviertel ist pedantisch genau rekonstruiert. Aber das jüdische Völkchen, das sich in den Kulissen bewegt, ist bestenfalls putzig. Das Ghetto als Folkloreveranstaltung, man ißt gefilte Fisch und immer dudelt eine Klarinette. Das Pogrom, schreibt Produzent Jürgen Haase, wollte Wicki mit „schonungslosem Realismus“ filmen, bis zur Grenze der Belastbarkeit für die Schauspieler. Also wieder viel Blut, Gewalt und Gemetzel (und Händewaschen. d.L.). Am brutalsten die Szene in der Musikalienhandlung. Die Zerstörung der Geige - welch symbolträchtiges Bild.

Und wenig später, am Schluß des Films, der nicht minder symbolische Tod von Benjamin Lenz. Das dicke Ende, das auf Auschwitz verweist. Auschwitz als Horrortrip

Der Holocaust läßt sich symbolisch nicht fassen. Auch nicht als Horrortrip. Je grausamer, je brutaler, je ekliger die Szenen, je größer die Treue zur Wirklichkeit, desto gründlicher der Verrat an ihr. Das Pogrom als Nervenkitzel, wir schauen zu und schaudern ein bißchen, vom TV -Gruselkabinett um Mitternacht sind wir Schlimmeres gewöhnt. Alle Rezensenten betonen, daß Wickis Film nie langweilig sei. In der Tat hat sein flüssig-epischer Erzählstrom etwas von der Leichtigkeit, mit der den Politikern in ihren Sonntagsreden die „Schrecken der NS-Zeit“, das „namenlose Entsetzen“, die „Grauen des Holocaust“ von den Lippen kommen: auch eine Form der Verharmlosung.

Der gewaltige technische und finanzielle Aufwand, die große Zahl der hervorragenden Schauspieler, die in Nebenrollen verbraucht werden, das forcierte Tempo - all das läßt ahnen, was Wicki bei allem gutem Willen ignorierte: Der NS -Vernichtungsmaschinerie ist mit der Kino-Maschine nicht beizukommen. Trotzdem soll und muß es Filme nach Auschwitz geben. Aber man muß ihnen ansehen, daß sie sich Auschwitz nicht vorstellen können. Die Bilder, die machbar sind, lassen uns ungeschoren.

Bernhard Wicki: Das Spinnennetz, nach Joseph Roth, Drehbuch: Wicki, Wolfgang Kirchner, Kamera: Gerard Vandenberg, mit Ulrich Mühe, Klaus Maria Brandauer, Corinna Kirchhoff, Armin Müller-Stahl, Europa 1989, 195 Min.

Das Buch zum Film: Schauplatz Spinnennetz, hrsg. von Jürgen Haase, 132 Seiten, 19,80 DM.