Chinas scharfzüngige Provokateurin

■ Die Schriftstellerin und Journalistin Dai Qing sitzt seit der Niederwerfung der Demokratiebewegung im Gefängnis / In engagierten Reportagen berichtete sie über die Situation der Frauen in China

Elke Wandel

Frauensalon - Funushalong, wie es im Chinesischen heißt, das klingt nach Friseur, bestenfalls nach einem Cafe, das vielleicht ausschließlich der Damenwelt vorbehalten ist.

Am Portal der Peking-Universität, Chinas geisteswissenschaftlicher Elite-Hochschule, werde ich heute von der Campus-Polizei angehalten. Ich muß mich ausweisen, muß angeben, wen ich besuchen will. Eine unübliche Befragungsprozedur, zumindest gegenüber „Langnasen“ - wie man in China Ausländer nennt. Doch am Tag zuvor, am 23. April, ist der landesweite Vorlesungsboykott beschlossen und ein unabhängiger Studentenverband gegründet worden.

Frauensalon. Plötzlich habe ich das Gefühl, auf dem Weg zu einer konspirativen Versammlung zu sein. In die Besucherliste am Eingangstor trage ich ein, daß ich eine deutsche Doktorandin besuchen möchte, die hier im Studentenheim wohnt. Ich darf passieren.

Die parkähnliche Campus-Anlage der Peking-Universität zeigt noch wenig Grün; das leichte Kratzen im Hals führe ich auf den gelbgrauen Staub zurück, den jedes Frühjahr die Sandstürme aus der Wüste Gobi nach Peking tragen. Vorbei am Universitätswasserturm, der im Pagodenstil nahe dem Campus -Teich in die Höhe ragt, vorbei an der Gedenkstätte für Edgar Snow radle ich zur geschichtswissenschaftlichen Abteilung, die in einem altehrwürdigen Bau im Hofhausstil untergebracht ist.

Frauensalon. Etwa 30 Frauen haben sich heute abend in einem der dunklen, muffigen Seminarräume der Hochschule versammelt. Nachdem sich seit zwei Jahren an der Fremdsprachenhochschule eine Gruppe von Dozentinnen und Studentinnen regelmäßig traf, um frauenspezifische Themen zu besprechen, finden sich seit Herbst letzten Jahres auch an der Peking-Universität alle zwei Wochen engagierte Studentinnen, Hochschullehrerinnen, Wissenschaftlerinnen zu einem Diskussionszirkel ein, um z.B. über positive tatsächliche und vermeintliche - weibliche Leitbilder in der chinesischen Geschichte zu diskutieren, sich über die Frauenbewegung in Japan oder in den USA zu informieren oder sich einfach über ihre Benachteiligung am Arbeitsplatz auszutauschen. Unkonventionell und prominent

Mit Spannung wird die Referentin des heutigen Abends erwartet: Dai Qing, etwas über 40 Jahre alt, die wohl prominenteste unter den unkonventionellen chinesischen Journalistinnen und Schriftstellerinnen ihrer Generation. Geboren während des japanisch-chinesischen Kriegs, verlor sie schon früh ihren Vater, der posthum zum revolutionären Märtyrer avancierte. Sie wurde von einem der höchsten militärischen Machthaber, von Marschall Ye Jianying, adoptiert, der später eine tragende Rolle beim Sturz der Viererbande spielen und u.a. Präsident des Nationalen Volkskongresses werden sollte. Durch ihre privilegierte Position als Kaderkind verfügt sie über ausgezeichnete Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und damit auch über Insider-Informationen; gleichzeitig genießt sie dadurch einen besonderen persönlichen Schutz, angesichts ihrer mutigen Veröffentlichungen ein durchaus nicht zu unterschätzender Umstand.

Sie studierte an der Hochschule für Militärtechnik in Harbin, arbeitete dann im Ministerium für Raumfahrt. Während der Kulturrevolution fiel sie in Ungnade, galt fortan als Konterrevolutionärin und wurde zur körperlichen Arbeit aufs Land geschickt. Nach ihrer Rehabilitierung kam sie zurück nach Peking - ins Ministerium für Innere Sicherheit -, und aus dieser Zeit stammen wohl die Gerüchte, die in Pekings Kulturszene die Runde machten: Dai Qing arbeite für den Geheimdienst.

Sie lernte Englisch am Fremdspracheninstitut der Armee in Nanjing und begann 1979 zu schreiben. Eine bewegte, für ein Kaderkind allerdings - auch für ein weibliches - keine ungewöhnliche Karriere. Seit 1982 arbeitet Dai Qing bei der 'Guangming-Ribao‘, der in chinesischen Intellektuellenkreisen beliebtesten Tageszeitung. Erlebt und erfahren hat sie bis dahin genug. Statt sich nun von ihren Privilegien korrumpieren zu lassen, schockt sie Chinas Öffentlichkeit mit schonungslosen Reportagen und scharfsinnigen Analysen von brisanten politischen Zusammenhängen. Vor allem auch ihre Erzählung „Pan“ (Erwartung), in der sie die enttäuschten Hoffnungen der chinesischen Intellektuellen thematisiert, hat für Zündstoff in der kulturpolitischen Diskussion gesorgt.

Eines ihrer wichtigsten Projekte ist der Versuch, die Gedächtnislücken ihrer Zeitgenossen mit unbequemen Enthüllungen zu schließen. Wenn sie z.B. beschreibt, wie in der Frühphase der kommunistischen Bewegung in Yanan unbeugsame Querdenker wie z.B. der Essayist Wang Shiwei, der u.a. gegen die Korruption in den Reihen der Genossen polemisierte, als trotzkistischer Verräter abgestempelt und später einfach beiseite geschafft wurde, dann bürstet sie die offizielle Schreibe zur Geschichte der Kommunistischen Partei China kräftig gegen den Strich.

Mit Interviews, in denen sie prominente Reformer und Dissidenten wie z.B. Fang Lizhi zu Wort kommen läßt, und mit ihrer Unterschrift unter eine Petition zur Freilassung aller politischen Gefangenen bewies sie ein hohes Maß an Zivilcourage.

Ihr vehementes Engagement gegen das große Drei-Schluchten -Staudammprojekt am Yangtsekiang hat Dai Qing den Ruf eingebracht, die erste Grüne Chinas zu sein. Kritische Stimmen bezeichnen das Projekt als unrentabel, als Prestigeobjekt, beanstanden die unangemessen lange Konstruktionsphase von zwölf bis 20 Jahren, halten die Umsiedlung von nahezu einer Million Menschen für nicht vertretbar, warnen vor unabsehbaren klimatischen Veränderungen und rechnen mit begünstigenden Faktoren für Erosion und Erdbeben. Dieses heißeste aller chinesischen Umweltthemen ist von höchster politischer Brisanz. Denn das Projekt liegt einem speziellen Energiefachmann besonders am Herzen: Li Peng persönlich. Geschichten von Frauen

Dai Qing nun auch als Feministin? In ein abendländisches Schema paßt sie wohl kaum. Daß ihr aber auch frauenspezifische Problemstellungen sehr am Herzen liegen, steht außer Frage. In ihrem Vortrag berichtet sie von einer Artikelserie, in der sie anhand von Einzelschicksalen, die jedoch keine Einzelfälle sind, Frauenprobleme behandelt, die man von offizieller Seite lieber nicht ans Licht der Öffentlichkeit brächte. Da wird z.B. das Leben einer Frau nachgezeichnet, die gerade aus einem Umerziehungslager entlassen ist, oder das Schicksal einer Geschiedenen geschildert, die sich entschließt, wieder zu heiraten, und dabei als Frau auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten stößt.

In einem dieser Porträts erzählt Dai Qing die wahre Geschichte eines Mädchens, das als Neunjährige von einem Fremden vergewaltigt wird. An einem eiskalten Winterabend steht das Kind frierend in der Schlange, um für die Familie Milch zu holen. Der große Mann hinter ihr breitet seinen warmen, weiten Militärmantel aus und wickelt sie ein. Sie glaubt, er wolle sie vor der Kälte schützen. Doch plötzlich verliert sie den Boden unter den Füßen, wird hochgehoben, zu einem Haufen von Kohlköpfen gezerrt, wird geschlagen und verliert das Bewußtsein. Als sie im Krankenhaus aufwacht, gibt es nicht nur die schmerzende, blutende Vagina und die Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis, sondern da sind auch gleich Mutter und Großmutter, die unter Tränen den Verlust der Jungfernschaft beklagen: Das Mädchen sei nun wertlos, es gäbe für sie keine Hoffnung, keine Zukunft... Engagiert ergreift Dai Qing Partei für die Frauen, denen Gewalt angetan wird, denen Ungerechtigkeit widerfährt. Und sie klagt die Gesellschaft an, die für ihre erstarrten moralischen Prinzipien das Lebensglück ihrer Kinder opfert.

In einer anderen Reportage wirft sie einen „Blick zurück im Zorn“ auf die Jahre der Kulturrevolution: 1966 hatte eine damals 20jährige Studentin einen Brief an Mao verfaßt, in dem sie offen kritisierte, was sie als ungerecht empfand. Sie brachte den Brief zur Post - und schluckte Gift. Ihr Selbstmordversuch mißlang, die junge Frau wurde „gerettet“ und wanderte sogleich ins Gefängnis - für 13 Jahre.

Frauensalon. Dai Qing formuliert ihren Vortrag scharfzüngig, baut kraftvolle Sätze, ein besonderer Genuß für diejenigen Zuhörerinnen, die ihre spitze Feder bereits schätzen gelernt haben. Durch die dicken Gläser ihrer Hornbrillen mühen sich kurzsichtige alte Damen, Dai Qings sparsame ausdrucksvolle Gestik in sich aufzusaugen. Die Hände der jungen Studentinnen fliegen über das Papier ihrer Kladden. Hier gibt es entschieden mehr zu lernen als in einer regulären Vorlesung.

Frauensalon. Das ist eine Insel inmitten einer Gesellschaft, die im Begriff ist, von ihren Widersprüchen zerrissen zu werden, ist ein offener Türspalt, der uns ahnen läßt, wie es in China morgen aussehen könnte. Und draußen, auf dem Campus, in den Straßen der Stadt, auf dem Platz des Himmlischen Friedens hat die Demokratiebewegung begonnen... Im Nachwort eines ihrer Bücher schrieb Dai Qing: „Daß China heute, nach vier Jahrzehnten friedlicher Aufbauarbeit, so ist, wie es ist, hängt damit zusammen, daß, wann immer eine Situation auftauchte, in der das Volk hätte 'Nein‘ schreien müssen, um gravierende politische Fehler zu vermeiden, nichts da war als Schweigen.“ Die Faust der Politik-Profis

Nach dem Tod von Hu Yaobang haben die Menschen ihr Schweigen gebrochen, zuerst an den Hochschulen, dann in den Büros, Kaufhäusern, Redaktionsräumen, Fabriken. Hungerstreik, Durststreik. Dai Qing interviewt Studenten und Studentinnen, die während der Tage des Gorbatschow-Besuchs auch die Aufnahme von Wasser verweigern. Sie unterstützt die Ziele der studentischen Demokratiebewegung, hinterfragt jedoch die Methoden, warnt, kennt die eiserne Faust der Politik-Profis, denen es nur darum geht, sich an der Macht zu halten. Dai Qing sieht schon die Falle, bietet sich als Vermittlerin zwischen Demonstranten und Regierung an. Die StudentInnen lehnen ab.

In den frühen Morgenstunden des 4. Juni erstickt das Militär den verzweifelten Schrei nach Freiheit und Gerechtigkeit in einem unvorstellbar grausamen Blutbad. Und wenn Dai Qing auch die für chinesische Verhältnisse ungestümen Formen der Proteste nicht gutgeheißen hatte, so war sie doch von der Reaktion der Regierungs- und Parteiführung entsetzt, angewidert. Noch am gleichen Tag trat sie öffentlich aus der Kommunistischen Partei Chinas aus, ein maßloßer Affront gegen die Alte Garde, die von den Mitgliedern nur den Kotau erwartet. Diese Provokation war eine unmißverständliche Parteinahme für die Demokratiebewegung.

Plötzlich, aber nicht unerwartet verschwand Dai Qing Ende Juli von der Bildfläche. Nun bewohnt sie eine Zelle im berühmt-berüchtigten Qin Cheng Jian Yu, dem Pekinger Prominenten-Gefängnis, durch dessen „enge Pforte“ schon manch ein kritischer Geist in die chinesische Geschichte einging.

Vorabdruck aus dem Buch „China - der Frauen“, hrg. von Margit Miosga und Anna Gerstlacher, das im kommenden Frühjahr im Verlag Frauenoffensive erscheinen wird.