Q U E R S P A L T E Liebsdorf ist überall

■ Mit ein paar Worten zur rechten Zeit hätte Boris Becker die DDR-Fluchtwelle bremsen können

Jetzt ist doch endlich klar, warum all die DDR-Bürger, die ihrem Land den Rücken kehren, hier bei uns so staunend die Augen aufreißen! In eitler Selbstüberschätzung - typisch Westler! - war davon ausgegangen worden, die bunte Welt des Kapitalismus mit dem prallen Warenangebot wäre es, die die von drüben bei ihrer Ankunft tiefen Emotionen aussetzt. Aber weit gefehlt. Seit gestern wissen wir, welcher Gedanke sich nach den ersten Eindrücken in der Köpfen unserer neuen Mitbürger breitmacht, und ihre Verblüffung ist durchaus nachzuvollziehen: Hier sieht es nicht viel anders aus als in Liebsdorf.

Sie kennen Liebsdorf nicht, jenen Flecken im Fläming, Kreis Luckau, Bezirk Cottbus? Das ist weiter nicht verwunderlich, und vermutlich wäre Liebsdorf auch nicht aus seiner Anonymität gerissen worden, hätte nicht Karen Schulz ihren weltläufigen Liebsten gefragt: „Hast du Lust?“ Der hatte und fuhr mit hin zu Karens Oma, dabei bestens getarnt in einem mausgrauen (sic!) Ford. Aber kaum stieg er aus, da rief das Volk „Boris“, und die 'Junge Welt‘ bat um ein Interview. Wodurch wir von seinen Eindrücken des realen Sozialismus erfahren: „Es sieht nicht viel anders aus als in Leimen.“ Bis auf Kleinigkeiten, daß nämlich „alle hier das gleiche Auto fahren“. Mit dem allerdings hat der Bürger - Traumland des ADAC - nun wirklich freie Fahrt, denn „ich habe hier noch nie eine Ampel gesehen“. Und das sagt der jetzt, nachdem Tausende sich auf den Weg gemacht haben. Was wäre der DDR-Führung erspart geblieben, hätte Boris Becker um Wochen früher Liebsdorf besucht und ihr derart Argumentationshilfe geleistet! Durch die Donau schwimmen, nächtens durch Wälder stolpern, wochenlang in Botschaften herumhängen, alles wegen ein paar Ampeln? Was für ein Beispiel hätte Boris Becker setzen können dafür, daß Männer eben doch Geschichte machen, manchmal sogar nur mit ein paar Sätzen. Und Erich Honecker würde nicht gram gewesen sein, daß dies (historischer Materialismus!) eigentlich gar nicht sein darf.

Thömmes