IM EIS DER ENDLOSSCHLEIFE

■ „Nordwestpassage“ im Theater Zerbrochene Fenster

„John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, daß er keinen Ball fangen konnte. Er hielt für die anderen die Schnur... Dem Spiel konnte John nicht folgen, also nicht Schiedsrichter sein. Er sah nicht genau, wann der Ball die Erde berührte.“ Nicht die „Nordwestpassage“ beginnt so, sondern Sten Nadolnys Roman über John Franklin, der auch „Die Entdeckung der Langsamkeit“ zum Thema hat.

Selbst die langsamste Bewegung geht endlich zuende und fängt wieder von vorne an, wenn sie von sich selbst nicht lassen mag. So finden wir John Franklins „Erebos„-Crew jetzt in „Mary's Bar“. Seit 150 Jahren sind die Männer auf der Suche nach der Nordwestpassage vom Atlantik zum Pazifik, von der wir Heutigen wissen, was Franklin nicht wissen kann, daß sie Fiktion ist: Utopie im fast wörtlichen Sinne - ein Nirgendwo-Wasser. Und so lichtet sich das Bühnendunkel anfangs über einer Szenerie, die Edward Hoppers berühmtes „Nighthawks„-Bild fortführt. Zusammengebrochene Nachtvögel, die über dem Tresen erstarrt sind. Allmählich füllen sich die Körper mit Bewegung, etwas fängt wieder an. Eine Tür wird geöffnet, der Schiffsarzt hat frische Luft verordnet; und mit dem frischen Wind tritt ein junger Mann herein, in Kleidung, Sprache, Gestik ein Heutiger. Man erkennt, wir befinden uns im Jahr 1989. Die Entdecker-Crew bricht wieder einmal auf, und der junge Mann, die neue Hoffnung, soll mit.

Aus dieser Konstruktion schürzen die beiden Autoren Kurt Reinhard und Copi Remund den Doppelknoten für ihr Stück, indem sie sich zweier Topoi bedienen: des alten literarischen vom „Fliegenden Holländer“ und des „Pirandello -Effekts“, einer inzwischen auch schon klassischen Theatertechnik. In der Londoner Bar von 1989 reinszenieren die alten Seeleute Nacht für Nacht freiwillig-unfreiwillig ihren Aufbruch ins Eis. Die einstmals Gescheiterten sagen und tun das tausendmal Gesagte und Getane, und gleichzeitig kommentieren sie, als Gefangene unseres Zeitalters fehlender Originale, fortwährend eben dies ihr Tun und Handeln. Kapitän Franklin weiß, daß er tot ist, sein Scheitern endgültig Geschichte, und doch bringt er sich immer noch einmal in immer denselben Sätzen, die als immer dieselben von allen gewußt und gespiegelt werden, spielend in Erscheinung. Sich spiegelnde Endlosschleifen.

Das könnte Ausgangspunkt sein für einen heftigen Zusammenstoß: die Kollision zerstreuter Jetztzeitigkeit der Heutige möchte nichts als in Ruhe seinen Cocktail trinken - mit einer Vergangenheit, in der das Entdecken von Sinn noch sehr sinnfällig wörtlich möglich war: Die weißen Flecken auf der Landkarte, heute längst zur kümmerlichen Metapher geschrumpft, waren damals noch real. Und wenn auch Franklins Suche vor 150 Jahren vergeblich war, so hätte doch die damals noch denkbare Entdeckung die Vergeblichkeit widerlegt. Es gab einen Vorrat an Sinn, die wirkliche Hoffnung; und die treibt die Untoten ja auch zur ewigen Wiederholung des Vergeblichen. Es hätte sich an diesem Gegensatz der allmähliche historische Prozeß der Desillusionierung entfalten können; der Verfall von Hoffnung nicht als psychisches Ereignis, sondern als notwendige Folge des Ganges der Zivilisation. Entdeckungen sind keine Frage eines individuellen Charakters mehr, sondern logistischer Teamarbeit. Es hätten die unterschiedlichen Meßeinheiten von Erfolg sichtbar werden können. „Die Welt wird kaum eine Entschuldigung für den haben, der eine einmal entdeckte Küste unerforscht läßt“, dieser Satz von James Cook steht auch auf dem schön gestalteten Programmzettel. Aber auf der Bühne wird er verschenkt.

Das Stück verspielt also Möglichkeiten. Die Dramaturgie verdonnert nicht nur die Schiffscrew zur Wiederholung ihrer eigenen Vergangenheit, sie verurteilt auch eine fähige Schauspielercrew zum Austausch alter Existenzial -Tiefsinnigkeiten. Es werden schöne zitierfähige Theatersätze mitgeteilt. „Das Ende ist immer das gleiche, was verschieden ist, ist der Weg dahin“, sagen die Spieler, wenn sie „haltlos zwischen den Zeiten segeln“. Sie durchschauen sich selbst: „Laß mir gefälligst meinen Zynismus„; sie bedienen die Publikumslust am Gegängeltwerden: „Den Leuten ist langweilig.“ Und sie verdoppeln das auf der Bühne ohnehin schon sinnfällig Sichtbare: „Irgendwann“, sagt der Doktor mit Blick auf das echte Aquarium mit echten Fischen, das die ganze Vorstellung lang auf dem Tresen leuchtet, „irgendwann gibt es keine einzige Bewegung, die ihr nicht schon mal gemacht habt, trotzdem macht ihr weiter.“ Das sind sicher, fürs eigene existenzielle Merkheft, schöne verbale Bedenkenswertstücke, doch sie versickern in Beliebigkeit. Es ist auch alles schön fürs Auge in Szene gesetzt, mit einem Sinn für die Differenz von Theater und Fernsehen, der eben nicht das Life-Spiel für eine Illusions-Not hält, aus der die Tugend einer immer mangelhaften Echtheit gebastelt werden müßte: Die Bühne, die während des pausenlos kinolangen Stücks gleichzeitig Schiffsinneres und Bar darstellt, mischt wohlgefällig Angedeutetes mit Echtem, Behelfsmäßiges mit Metaphorischem; eine echte Musikbox spielt, ein unecht Toter liegt in seiner Farbblutlache, die später real weggewischt wird; und man ißt aus echten Blechdosen, an deren Bleigehalt übrigens die „Erebos„-Mannschaft nach neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen gestorben sein soll.

Fazit: Das Schau-Spiel, die Aktion, das Bühnenbild sind durchaus sehenswert, das in Szene gesetzte Sichtbare ist eine Augenlust und von einer im Off-Bereich eher ungewöhnlichen Präzision. Besonders zum Schluß hin verdichten sich die Bilder von Sinnproduktion im Großen und im Kleinen: Der Schiffsjunge muß gegen den Leerlauf der Langsamkeit das Schiff neu streichen. Und es entsteht auf der blauen Bühnenwand, fast beiläufig und in echter weißer Farbe, die Silhouette eines Eisberges. Jetzt will Franklin es einmal anders machen, den Wiederholungszwang durchbrechen und gleichzeitig den Eisberg. Alle starren auf den Eisberg. Sie werden ihn rammen, beschließen sie, um hinter ihn zu gelangen. Der Neuzeitler aber, statt die Froschkönige wachzuküssen oder mitzumachen, bekommt Angst, will fliehen. Ein Mord geschieht. Das Anfangsbild ist wieder hergestellt. Es könnte von vorne beginnen...

In seiner souveränen Schieflage ist die „Nordwestpassage“ ein Argument dafür, daß Kulturfördergelder nicht in Unsummen in staatliche Hoch- und Großbühnen gepumpt werden sollte. Wenn die Rede von der „dezentralen Kulturarbeit“ etwas anderes im Sinn hat als die übliche Mischung von Goodwill und Dilettantismus im Kleinkunst- und toter Preisleistungsschau im Großkunstbereich, dann wäre zum Beispiel diese Theatergruppe weiter ein förderungswürdiges Projekt in größeren Umfang.

Christel Dormagen

Theater Zerbrochene Fenster, Fidicinstraße3, 1/61, Tel. 694 24 00; weitere Aufführungen bis 23.Oktober, Freitag bis Montag, 21Uhr.