Rückblick auf einen Frühling

■ Die ARD zeigt neue chinesische Spielfilme / Genosse Mittelbauer beschreibt den Konflikt zwischen Individualität und Kollektivismus vor dem Massaker

Zum 1.Oktober 1989, an dem sich der Gründungstag der Volksrepublik China zum vierzigsten Mal jährt, wollte die ARD mit neuen chinesischen Spielfilmen Aspekte der Entwicklung des größten Volkes der Erde aus den Augen junger chinesischer Regisseure dokumentieren. Nach dem Massaker auf dem Tienanmen-Platz vom 4.Juni 1989 scheint eine veränderte Perspektive gegenüber den fünf Filmen geboten, die die ARD nun ab heute im Spätprogramm sendet. Man wird in ihnen nach Indizien für die Entwicklung zum 4.Juni suchen, sollte sich jedoch vor Überbewertungen hüten, die in den Filmen immer letzte Zeugnisse authentischer chinesischer Kunst vor dem Massaker sehen wollen.

In Die Stadt Hibiskus aus dem Jahr 1987, dem ersten Film der Reihe heute um 23 Uhr, legt Regisseur Xie Jin durch die Wahl der individuellen Perspektive die Wertung des Konflikts zwischen Privatisierungsbestrebungen und dem Geist der Kulturrevolution bereits zu Anfang fest. Mit Fleiß und Initiative hat es ein junges Ehepaar auf dem Marktplatz von Hibiskus mit einem florierenden Imbißstand zu einem Haus gebracht. Ihr Erfolg erregt den Neid der ehrgeizigen Ortsfunktionärin, die die beiden im Namen der Kulturrevolution öffentlich anprangert und den sogenannten „fünf Kategorien“ zuordnet. „Konterrevolutionär“ oder „Reicher Bauer“ bilden die härtesten dieser Kasten gesellschaftlicher Ächtung, lebenslang aufgezwungene Etikettierungen, die in den Namenszug ihres Trägers eingehen und bis in die zweite Generation vererbt werden.

Die vom Regisseur für den Export freigegebene Version seines mit epischer Breite erzählten, das Milieu realistisch schildernden Melodrams ist um eine Reihe von Szenen gekürzt, die die vorgeblich politische Motivation der Funktionärsfurie deutlicher als persönliches Ränkespiel entlarvt. Die Diskreditierung des Politischen durch das Persönliche soll in der deutschen Fassung anscheinend abgemildert, die Souveränität der einsichtigen Parteiführung gegenüber persönlichen Fehltritten rehabilitiert werden.

Die plakativen Formeln der offiziellen Rederituale („Genosse Mittelbauer“, „rechtes bürgerliches Element“) klingen im Deutschen ungewollt kabarettistisch. Die Synchronisation ist natürlich nicht in der Lage, den spezifischen Eigenheiten der chinesischen Sprachkultur Rechnung zu tragen. Wie es sich etwa an dem Umstand zeigt, daß es in China für 1,1 Milliarden Menschen nur circa 50 (häufiger vorkommende) Namen gibt, weswegen die Nennung der Funktion vor dem Namen der weiteren Differenzierung dient. Westlichen Zuschauern stellt sich daher das Problem der Rezeption.

Der Witz von Mi Jiashans pointenreicher Satire Mit beschränkter Haftung aus dem Jahre 1988 spielt eine stets über Geschäftstüchtigkeit definierte Individualität gegen ameisenhaften Kollektivismus aus. Drei einfallsreiche Pekinger firmieren als multifunktionale Ersatzmänner, die gegen Entgelt für den entnervten Ehemann mit dessen Frau streiten, für den verhinderten Geschäftsmann die Verabredung mit der Geliebten wahrnehmen und für den feigen Liebhaber die Affäre beenden. Grundlage dieser schlitzohrigen Seelsorge-Prostitution ist die Veralberung des zentralen Gedankens der Kulturrevolution, jeder könne eines jeden Arbeit verrichten. Der Film läuft zur Zeit auch in China.

Alter Brunnen von Wu Tianming (1988) dagegen führt mit einfühlsamen Bildern das Leben in einem abgelegenen Bergdorf vor, dessen Bewohner mit einfachen Werkzeugen seit Generationen vergeblich nach Wasser bohren. Nach seiner Ausbildung in der Stadt verhilft ein junger Ingenieur dem Dorf mit modernen Geräten zu einem Brunnen, sein persönliches Glück bleibt dabei auf der Strecke. Zurückhaltend inszeniert, gibt dieser Film in seiner Kargheit genügend Zeit, die uns fremde Mentalität genauer zu studieren. Wu Tianming gilt als Spiritus rector des noch jungen chinesischen Kinos. Sein Interesse gilt den Eigenarten und Traditionen der Landbevölkerung, die er behutsam mit ethnographischer Genauigkeit vorführt. Mit ihren knalligen Farben erscheinen die Kleider der Bewohner wie Wappen, die eine traditionsreiche Verwurzelung mit der Umwelt bereits auf der optischen Ebene signalisieren.

Ergänzt wird die Reihe durch die Wiederholung von Zang ZemingsSchwanengesang (1985). Anhand der Lebensgeschichte eines populären Komponisten wird der Verlust authentischer Tradition im Zuge der Kulturrevolution angeklagt. Während der anschließenden Liberalisierung wird der „konterrevolutionäre“ Komponist nicht wieder rehabilitiert; eine Eklektizistin feiert daraufhin mit einer James-Last-Version seiner Werke einen großen Erfolg, der im Grunde auf dem Verlust traditioneller Kultur beruht.

Vom selben Regisseur läuft noch ein weiterer Film in der ARD-Chinareihe. In Sonne und Regen (1988) porträtiert er eine junge chinesische Generation, die nach westlichem Vorbild frei von traditionellen und familiären Bindungen in die Mühlen erfolgs- und konsumorientierter Lebensweise gerät.

Manfred Riepe

Die Sendetermine der folgenden Filme im Überblick:

„Schwanengesang“, 2.Oktober 1989 um 23.30 Uhr; „Alter Brunnen“, 16.Oktober 1989, 23 Uhr; „Sonne und Regen“, 30.Oktober 1989, 23 Uhr; „Mit beschränkter Haftung“, 13.November 1989