Haarkämme verlängern das Rückgrat

■ Porträt der andalusischen Sängerin Martirio

Antje Bauer

Von ihrem Hinterkopf ragen steile Gebilde auf - ein Eiffelturm, ein riesiges rotes Plastikherz, ein Vogelschwarm - Hommage an die hohen Haarkämme der traditionellen Andalusierinnen. Auf ihrer Nase sitzt eine schwarze Brille mit Schmetterlingsflügeln, die Hand wedelt mit einem extravaganten Fächer. Auf der Bühne und ihren Plattencovern ist die andalusische Sängerin Martirio unverwechselbar. Doch die da im Madrider Sitz der Schallplattenfirma CBS zur Tür hereinkommt, ist eine rundliche junge Frau, ungeschminkt, mit hellen, etwas schüchternen Augen. Das soll Martirio sein? Sie sieht aus wie die nette Nachbarin von gegenüber.

Die ehrfürchtigen CBS-Sekretärinnen, die bei ihrem Anblick an Martirio denken, sagen Maribel zu ihr, und die sanfte, freundliche Stimme Maribels wird über Martirio reden. Das ist umgekehrt wie auf der Bühne. Da singt Martirio über Maribel. Sie singt Flamenco und Sevillanas, eine Art vereinfachten Flamenco für den Seviller Hausgebrauch. Flamenco, das ist jene tragische Musik, die von einer Volksgruppe gesungen wird, die sich in ihren Liedern als „gitanos“, Zigeuner, bezeichnet.

Martirio ist keine Zigeunerin, aber Andalusierin, das ist auch schon ganz gut. Sie müßte also über die Untreue der Geliebten herzzerreißend singen, über den Tod des Kindes, über alle erhebende Tragik der Welt. Statt dessen macht sie Hausfrauenflamenco. Das geht so:

Mit meinem Trainingsanzug und meinen Absätzen,

ordentlich aber lässig

geht er mit mir spazieren

am Sonntagvormittag.

Während er das Auto wäscht

räume ich die Wohnung auf

damit ich, wenn er später kommt,

nichts mehr zu tun hab!

Begleitung: eine ganz schnelle Flamencogitarre. Die Inspiration für die Texte bekommt Martirio von Maribel. Maribel Quinones ist im andalusischen Huelva als Tochter aus gutem Hause aufgewachsen, heiratete mit 18 einen Landarzt und bekam einen Sohn. Alles, wie es sich gehört. Doch ein paar Jahre später hatte sie es satt. „Ich habe sehr früh geheiratet, das Unistudium abgebrochen und bin versackt“, erzählt Maribel. „Ich hatte immer mehr Komplexe und mehr Angst, auf die Straße zu gehen, und bekam von nichts etwas mit. Und da merkte ich, daß ich dick und frustriert war. Aber ich hatte schon als Kind gesungen und damit weitergemacht, und so konnte ich mich daran festhalten. Irgendwann hielt ich mein Leben nicht mehr aus und brach damit.“ Sie verließ ihren Mann und zog nach Sevilla. Begann dort, in Gruppen mitzusingen. Folk, Rock, Flamenco. Schließlich tat sie sich mit einem der Erneuerer des Flamenco, mit Kiko Veneno, zusammen, legte sich einen Künstlernamen zu, staffierte sich als schräge Andalusierin aus und gab ihre erste Platte heraus. Und nach ein paar Jahren, im Herbst '88, eine zweite. Es sind Mischungen aus neuinterpretierten alten Flamenco-Liedern, aus Hausfrauen -Sevillanas, aus Chansons und Popsongs.

Der Erfolg blieb nicht aus. Zwar stößt ihre Musik bei den Traditionalisten des Flamenco nicht unbedingt auf Begeisterung, doch reiht sie sich ein in eine Welle von Versuchen, den Flamenco aus der andalusischen Ecke herauszuholen und wieder aufzuwerten. Paco de Lucia ist einer der Neuerer dieser Musik, und Pata Negra, und eben Martirio. Die spanischen Musikliebhaber, die nach Francos Tod auf die westliche Popmusik abgefahren waren, haben in den letzten Jahren ihr Herz für das Eigene wiederentdeckt, der Flamenco hat an Zuhörern gewonnen. Wenn im Rahmen des sommerlichen Kulturprogramms im Madrider Retiropark Flamenco -Vorführungen gegeben werden, mischen sich dort die Yuppies der Hauptstadt unter die Gruppen junger Zigeuner, meist Anverwandte der Künstler. Dieselben Zigeuner begleiten mit ihren „Ole„-Rufen jedoch auch die Konzerte afrikanischer Sänger - das Ghetto des Flamenco hat sich geöffnet.

Für Martirio ist der Flamenco nicht Folklore, sondern eine Musikart wie der Jazz oder der Soul, eine Ausdrucksform, die viele Inhalte haben kann. Ihre Texte beweisen das: Sie sind ironisch, komisch, sensibel. Doch trotz all ihrer Aufmüpfigkeit gegen das Unabänderliche, das im traditionellen Flamenco so pathetisch besungen wird, hat sie eine Neigung zur Tragik behalten. Ihr Name zeugt davon: Martirio, Martyrium, hat sich Maribel genannt. Warum? „Ich gehöre zu dieser Generation Frauen, die für eine Sache vorbereitet wurde und erst später merkte, daß das Leben etwas ganz anderes war. Wir haben uns völlig umorientieren müssen. Das heißt, es gibt eine ganze Menge Dinge, die in uns verwurzelt sind und gegen die wir ständig angehen müssen. In dieser Hinsicht ist es ein Martyrium.“ Das der Mutter zum Beispiel, die, wie viele spanischen Mütter, versucht, ihren Sohn in ihren Klauen zu halten:

Oh mein Junge,

es sind schon drei Tage

seit ich ihn nicht sehe

wo treibt sich wohl mein Junge herum...

Er wird wohl Wein trinken

oder sich herumtreiben - betrunken!

oder irgendeine Frau

hält ihn von mir fern!

Martirio singt Maribel. Ist das ein Appell an die Hausfrauen, daß sie Martirios Weg nachgehen sollen? „Ich bin zwar keine typische Hausfrau, aber ich habe lange Zeit in diesem Gefängnis der Frau gelebt, die im Haus ist und keinen Ort hat, um ihre Energien kanalisieren zu können, und sich viel mehr um das Leben der anderen als um ihr eigenes kümmert. Darin liegt ein Aufruf. Man muß nicht wunderbar sein, um Künstler sein zu können, man muß nicht superhübsch sein, um auf der Bühne groß auszusehen. Das hängt nur davon ab, ob du selber willst. Wenn du aus der Mittelmäßigkeit ausbrechen und aufhören willst, eine graue Frau zu sein, die von nichts etwas mitkriegt und jeden Tag älter und fetter wird, dann kannst du das, wenn du willst.“

Dennoch wehrt sie sich gegen die Idee, vor allem für Frauen zu singen. „Frei zu sein heißt wohl, sich zu trauen. Niemanden für das verantwortlich zu machen, was einem geschieht, und sich nicht für minderwertig gegenüber anderen zu halten. Aber das gilt nicht nur für Hausfrauen, das gilt für jeden.“ Das Schwanken zwischen Schüchternheit und dem Willen, sich auszuleben, das in der Person Martirio/Maribel so deutlich wird, zeigt sich auch in ihrer Aufmachung auf der Bühne. Die schwarze Sonnenbrille soll die Unsicherheit in ihren Augen verbergen. Die Haarkämme, die auf ihrem Kopf zittern und an traditionelle Andalusierinnen und vergreiste kastilische Adlige erinnernt, sind hingegen „eine Verlängerung meiner selbst nach außen“, wie Martirio das nennt, „eine Verlängerung des Rückgrats, sie strecken den Nacken und machen dich schön wie eine Göttin. Mit einem Kamm richtet sich dein ganzer Körper auf.“

Maribel trägt keine Kämme, nur einen Fächer, mit dem sie im klimagekühlten Büro der CBS nervös wedelt. „Das Verhältnis zwischen Maribel und Martirio? Maribel ist wohl die Sekretärin, diejenige, die im Schatten steht, während Martirio die Starke ist, die Frau, die ich sein will. Es gibt viele Dinge, die ich mich nicht traue, während Martirio die Unverschämtheit besitzt, auf der Bühne all ihre Mittelmäßigkeit zu zeigen, die ja nicht nur ihre, sondern die Mittelmäßigkeit vieler Leute ist; die aber auch zeigen kann, daß sie Spaß an dem hat, was sie macht, und daß sie sich wohl fühlt in ihrer Haut.“ Doch so wie Maribel Martirio braucht, hat auch umgekehrt Martirio Maribel nötig. Zieht die schwarze Brille ab, zieht sich die Gestecke aus dem Haar, hört ganz plötzlich auf, ein Star zu sein. Damit es ihr nicht geht wie Maria de la O aus dem alten Flamenco -Lied, das sie in ihr Repertoire mit aufgenommen hat:

Für meine Hände Ringe

für meine Launen Geld

und um meinen Körper zu putzen

bestickte Umhänge

seidene Kleider.

Für seinen Durst war ich das Wasser

für seine Kälte die Kerze

und für seine liebenden Küsse

ließ ich in seinen Armen mein dunkles Fleisch.

Maria de la O,

Welch unglückliche Zigeunerin bist du,

die du alles hast!

Du willst lachen,

doch selbst deine Äugelchen sind violett

vor lauter Leiden.

Verdammter Zaster,

um dessentwillen du den Zigeuner verließest,

den du liebtest.

Eine Strafe Gottes, eine Strafe Gottes

ist das Kreuz, das du trägst,

Maria de la O.

Du wirst mehr als eine Königin sein!

Und ich, ich glaubte es,

mein Leben und mein Gold gäbe ich jetzt,

um die zu sein, die ich war.

Es ist kein Zufall, daß Martirio in ihrer Aufmachung und in ihren Themen immer wieder das andalusische Erbe aufnimmt. Ihre Herkunft aus dem Süden Spaniens ist nicht nur geographisch. Sie hat von dort die Liebe zum Prunk, zum Dekorativen, zum Übertriebenen. Und ihre Sympathie zu der Lebenseinstellung der Zigeuner, deren Flamenco sie singt. „Ich habe das große Glück gehabt, in einem Milieu leben zu können, zu dem man normalerweise keinen Zugang hat, weil die Zigeuner lieber unter sich sind. Ich habe bei ihnen so viele junge Alte gesehen, so viel Ungeniertheit und Lust, glücklich zu sein... Sie haben ein scharfes Auge, um das Echte vom Unechten zu unterscheiden. Heute versucht jeder, die Karriereleiter hochzuklettern. Doch sie haben eher die Haltung, sich unter einen Baum zu setzen und nachzudenken.“

Maribel hat diese Zeit nicht. In zwei Tagen wird sie wieder ihre Brille aufsetzen und die Haare mit Kämmen füllen.

Martirio hat bisher zwei Platten gemacht, die in Deutschland nur über den Import erhältlich sind: „Estoy mala“ (LP, Nuevos Medios 1986) und „Cristalitos Machacaos“ (LP, Nuevos Medios / CBS 1988).