Geschichte ist keine Gefahr

Großbritannien hat keine Angst vor dem großen Bruder in Europa. Der britische Außenminister John Major sagte am letzten Mittwoch in Bonn: „Es ist richtig, daß die Deutschen ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Wir stehen zu unserer Verpflichtung, die wir Mitte der fünfziger Jahre eingegangen sind; die Alliierten sollten zusammenarbeiten, um ihr gemeinsames Ziel, ein wiedervereinigtes Deutschland mit genau dem gleichen demokratischen System wie das der Bundesrepublik, zu erreichen.“ Der Journalist John Palmer weist im 'Guardian‘ darauf hin, daß Majors Standpunkt pure Heuchelei sei: „Die britische Regierung gratuliert der Bundesrepublik dazu, daß sie ihre Tore den Flüchtlingen öffnet, die vor dem 'Kommunismus‘ fliehen. Aber Großbritannien verweigert genau dieses Recht den Menschen in Hongkong, die in wenigen Jahren in ein Land integriert werden, das genauso stalinistisch ist wie die DDR.“

Die Labour Party hat sich in der „deutschen Frage“ offenbar noch nicht entschieden. Ein Labour-Sprecher für internationale Angelegenheiten erklärte gegenüber der taz, daß sich seine Partei in dieser Frage voll und ganz auf die SPD verlasse. Sollte die SPD aufgrund demokratischer Entwicklungen in der DDR eine Wiedervereinigung für wünschenswert erachten, dann werde man diese Möglichkeit „wohlwollend in Betracht ziehen“.

Die britische Presse ist sich weitgehend einig darin, daß von einem wiedervereinigten Deutschland keine Gefahr ausgehe. Peter Jenkins vom 'Independent‘ sieht keinen Grund, warum sich die Geschichte wiederholen solle: „Der Wunsch nach einem größeren Deutschland wird heute nicht mehr von einem Territorialanspruch abgeleitet, sondern hat humanitäre Gründe: Der Westen verlangt nach Freiheit für den Osten.“ Die britischen Medien glauben, daß eine deutsche Wiedervereinigung der Europäischen Gemeinschaft zugute kommen werde. Schließlich sei die BRD fest in dem Bündnis verankert, und eine Selbstbestimmung der DDR komme ohnehin nur in Frage, wenn dort der Kommunismus durch eine liberale Demokratie ersetzt werde. Lediglich John Palmer erinnert im 'Guardian‘ daran, daß die Nato nicht nur zur Verteidigung gegen die sowjetische „Bedrohung“ gegründet wurde, sondern auch als Gegengewicht zu einem möglichen Wiederaufleben deutscher Machtgelüste. Allerdings könne „jede prinzipielle Ablehnung des Rechts auf Selbstbestimmung für das deutsche Volk nur durch Argumente gerechtfertigt werden, die sich auf eine mystische, unhistorische Sichtweise der deutschen Schuld stützen“.

Und der 'Independent‘ sieht im Geiste schon die letzte Schlacht im kalten Krieg vor sich: „In der deutschen Frage dürfen wir uns nicht von alten Vorurteilen und überholten Voraussetzungen leiten lassen“, so Jenkins. „Der kalte Krieg wurde im Namen der Freiheit geführt. Wenn heute das Verlangen nach Freiheit in der DDR zu einem Wunsch nach Wiedervereinigung führt, der ein Echo in der Bundesrepublik findet, dann dürfen wir uns nicht dagegen stellen. Statt darüber nachzudenken, wie die deutsche Einheit zu verhindern sei, sollten wir lieber nach Wegen suchen, wie die Wiedervereinigung auf friedlichem Weg herbeigeführt werden kann. Das wäre der endgültige Sieg des Westens im kalten Krieg.“

Ralf Sotscheck, London