: Standortbestimmung-betr.: "Freiheit statt Sozialismus" und "Die Perestroika nicht vorschnell abbürsten", taz vom 19.9.89
betr.: „Freiheit statt Sozialismus“, (Leserbrief), und „Die Perestroika nicht vorschnell abbürsten“, taz vom 19.9.89
Die „Erbärmlichkeit der linken Bewegungen“, wie Horst, Mannheim, sein Befinden zu operationalisieren beliebt, ironisiert sich ja schon selbst in Eurem Beitrag von Detlev Pracht: „Die Perestroika nicht vorschnell abbürsten“. Wie hier wieder ein für die Theorie der Auferstehung prädestinierter Sozialromantiker den RealpolitikerInnen, die vor lauter permanenter Revolution nicht zum Theoriespiel kamen, eine analytische Prognose liefert und dabei, infolge vakuider BRD-Überdrüssigkeit, den längst sprachlosen Linken noch eine neue Theoriefunktion zuweist - tadellos. Aber sieht er auch, was ganz real auf linke Positionen zukommt?
Der Antikommunismus in seiner irrationalsten Form feiert fröhliche Urstände allenthalben. Mit dem Verweis auf die Diskreditierung der Regime kann man wieder jede dialektisch verwurzelte Argumentation mit billigster Polemik erschlagen, und sogar noch ein q.e.d. (Was wirfst Du da hinterher? d.sin) hinterherwerfen.
Linke, Grüne und Sozis dürfen öffentlich nicht sagen, was sie von dem Zustrom der ÜbersiedlerInnen halten: Ein Gros von ihnen ist kleinbürgerlicher und konservativer als die SchwabInnen. Auf die Frage nach den Folgen für andere Ausreisewillige und die, die bleiben, antworten die meisten mit „Nach mir die Sintflut“. Aus linker Sicht sind sie weniger Opfer des Sozialismus als vielmehr des Westfernsehens.
Linke, Sozis und Grüne müssen also schweigen und zusehen, wie Reaktionäre Punkte sammeln mit Integrationsaufrufen, Hymnen auf die freie Marktwirtschaft und messianischen High -Noon-Aufrufen gen Osten.
Und weil wer schweigt, nicht widerspricht, müssen sich Linke, Sozis und Grüne das ganze Bündel: Kontinuität des Dritten Reiches, Alleinvertretungsanspruch und Wiedervereinigung zu westlichen Konditionen - bald als gesamtgesellschaftlichen Minimalkonsens anrechnen lassen.
Wenn das Deutsche Fernsehen es wert findet, eine DKP -Vorständlerin aus Hamburg zu bringen, die haareraufend gesteht, sie zweifele angesichts des Salamivotums an den Pfeilern ihres Weltbildes, dann ist es vielleicht angebracht, eine Standortbestimmung westdeutscher Linker an der doppeldeutschen Problematik und nicht an der Gorbimarke zu orientieren.
Oliver, Hamburg
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