Die Millowitsch-Maschine

■ Saisonauftakt in Basel: Frank Castorf inszeniert „Ajas“, Jossie Wieler das frühe Tschechow-Stück „Ivanow„+ZD+63.e

Hätte Heiner Müller einen Ajas von und nach Sophokles geschrieben, hieße er „Ajasmaterial“. Er hat es bis heute nicht getan - jetzt hat Frank Castorf es versucht. Er montierte Teile der antiken Vorlage, würzte sie mit Fremdtexten, und es wurde daraus eine „Millowitschmaschine“: die Geschichte des Ajas - eine Art Schwarzenegger im Griechenheer vor Troja -, der zwar die meisten Muskeln hat, aber doch nicht zum größten Krieger gekürt wird. Daß es Odysseus sein soll, macht ihn blindwütig, worauf ihn Athene, die oberste Kriegschefin, kurzfristig mit Blödheit schlägt. Er will Odysseus, Agamemnon und Menelaos an den Kragen, metzelt stattdessen aber Rinder und stürzt sich schamrot ins eigene Schwert. Muskeln ok, aber dazu noch blöd! „Wir bleiben in telephonischer Verbindung“, meint Heerführer Agamemnon (Marcus Mislin).

Ajas (Jörg Schröder) ist ein Versager, Odysseus (Bernhard Schütz) seiner Rolle nicht gewachsen. Über der Szene - ein Hauch von Ironie. Einer sagt was, der Andere widerspricht, der Rest ist Klamauk. Ein antikischer Millowitsch mit Einlagen: Barschels Schwurhand, Chaplins Hitler-Parodie, Marlene Dietrich, die Leserbriefe der 'Zeit‘. Lediglich Ajas‘ Frau Tekmessa (Ilona Schulz) und seinem Halbbruder Teukros (Siggi Schwientek) verleiht Castorf einen Hauch von tragischer Schwere.

Für die anderen gilt, was der DDR-Regisseur in einem Interview sagt: Ausgetüftelte Figuren interessierten ihn nicht mehr. Es ist also konsequent, daß Pallas Athene und die Griechenkämpfer zu bloßen Textträgern, die Texte zu Spielmaterial werden. In einer Szene soll Athene von Ajas berichten, Odysseus nimmt die in Basel dreigeteilte Göttin (Deborah Epstein, Silvia Rieger und Michaela Steiger) ins Kreuzverhör. Sie verheddern sich, die klassische Wortmaschine gerät ins Stocken. Eine Dada-Destruktion, mit der Castorf den im antiken Text lauernden Wahnsinn freilegt. Und ein eigenwiliger Inszenierungsstil, was aber alleine noch keine Kunst ist.

Daß ihm sein Stil hauptsächlich Verrisse beschert - wie schon anläßlich seiner ersten West-Inszenierung ('Hamlet‘ in Köln) - liegt daran, daß Castorf seine „Millowitschmaschine“ zu sehr liebt und einen Tick zuviel Klaumauk inszeniert. So hat Pallas Athene die Macht, die Menschen mit einem Ellbogenfluch das Zittern zu lehren. Als die sonst brillanten Göttinen das aber vergeblich bei den Zuschauern probieren und ihren Unmut in heutiger Umgangssprache äußern, wird's flach. Denn was wäre da noch zu beweisen. Daß auch die griechischen Götter Kraftmeier waren? Daß es Götterzauber nicht mehr gibt? Schon Botho Straußs Titania und Oberon im 'Park'-Busch waren nicht mehr als nur ein Anlaß für die Theater, gute Schauspielkunst vorzuführen. Und das ist jetzt auch schon wieder ein paar Jahre her.

Gag as Gag can - wenn Castorf dieser Versuchung nicht erliegt, ist seine Inszenierung stark. Einlagen, die unprätentiös kommen, machen Sinn. Durch The End von den Doors werden Vietnam, Apokalypse Now und eines der jüngsten Schlachthäuser der Menscheitsgeschichte wieder lebendig. Silvia Rieger - wie Frank Castorf durch die Künstleragentur der DDR vermittelt (Anmerkung im Programmheft) - singt es wie eine Nummer aus Porgy and Bess.

Der DDR-Regisseur pendelt in nächster Zeit zwischen Weimar, München, Ost-Berlin und Hamburg. Jossi Wieler arbeitet hauptsächlich in Bonn und Basel. Wie Castorf hat er sich mit dem 'Ivanow‘ ein selten gespieltes Stück vorgenommen. Tschechow selbst meint zu seinem Bühnen-Erstling, es sei ihm verdächtig kurz geraten, und seine ganze Energie stecke in einigen „wirklich starken und scharfen Stellen.“ Das stimmt so nicht. Denn 'Ivanow‘ ist schon erschreckend meisterlich gebaut, allerdings anders gefärbt als etwa die 'Drei Schwestern‘ oder 'Der Kirschgarten‘ - impulsiver, expressiver. Nikolaj Alekseevic Ivanow ist ein Vorläufer der illusionslosen Melancholiker, die Tschechow noch gestalten wird: mit einem unrentablen Gut, Schulden, und zunehmend jähen Ausbrüchen.

Michael Wittenborn spielt ihn als einen, der bis zum Überdruss unter Hochspannung steht. Er will noch irgendwo hin, obwohl ihm eigentlich schon alles egal ist. Ein schwieriger Part. Er sitzt da wie ein selbstverliebtes Kind oder guckt, als wolle er alles dem Erdboden gleichmachen. Seine Frau Anna Petrowna (Desiree Meiser) leidet an Schwindsucht und stirbt vor der Zeit. Es gibt auch schon das typische Tschechow-Mädchen, die immer Kraftvolle im Endzeit -Reigen aus der russischen Provinz des ausgehenden letzten Jahrhunderts. Dieses mal heißt sie Sascha (Inka Friedrich) und will Ivanow retten. Es ist schon zur Hochzeit angerichtet, da fällt ein Schuß: Ivanow hat sich umgebracht. Saschas Mutter Zinaida Savisna (Hilde Ziegler) ist penetrant geizig, Vater Pavel Kirilyc (Urs Bihler) ein Punchingball zwischen Tochter und Frau - fast schon trottelig dem Wodka zugetan, zusammen mit dem Grafen Sabelskij (Adolph Spalinger) und Gutsverwalter Borkin (Gottfried Breifuss) ein Komiker-Trio von Gottes Gnaden. Einmal dürfen sie sich besaufen: Jossie Wieler setzt das in Szene, als wären wir in einer Shakespeare-Komödie. Wenn der Gutsverwalter kommt, wird es lebendig. Der Graf Sabelskij gibt den alten Schwerenöter und wird von der wesentlich jüngeren Marfa Egorovna bedrängt - die reiche Witwe ist scharf auf den Adelstitel. Und dann gibts noch den jungen Landarzt Lvov (Peter Jecklin), einen trockenen Moralisten, der seine Deformation hinter vermeintlichem Berufsethos zu verstecken sucht.

Tschechow hat schon in seinem Erstling solch eine Fülle von Charakteren und Typen kreiert, daß manche Bühne Schwierigkeiten haben könnte, gleichwertig zu besetzen. Jossie Wieler konnte sich in Basel den „Luxus“ leisten, auch aus nicht zentralen Rollen kleine Glanznummern zu machen. Wenn Gottfried Breitfuss als skrupellos geschäftstüchtiger Borkin auf die Bühne kommt, ist das jedesmal ein Ereignis. Und Barbara Falter spielt die reiche Witwe Marfa so schrill, daß klar wird, warum sie selbst der dahinwelkende Graf nicht will.

Die Saison ist gerade erst eingeläutet - die zweite für das neu formierte Basler Theater. Mit den ersten beiden Premieren ist es seinem Ruf gerecht geworden, sich innerhalb kurzer Zeit zu den ersten Bühnen im deutschsprachigen Raum hochgespielt zu haben.

Jürgen Berger